»Lasse den Körper sprechen und höre ihm zu«: Interview mit Ulrike Juchmann zu körperorientierten Interventionen

In unserer digitalisierten und kopflastigen Welt gewinnt der Körper immer mehr an Bedeutung – auch in der modernen Psychotherapie. Wir beleuchten mit Ulrike Juchmann in diesem Interview, warum der Kontakt mit dem Körper in der therapeutischen Arbeit unverzichtbar ist. Mit ihrer langjährigen Erfahrung zeigt sie auf, wie körperorientierte Ansätze nicht nur effektiv, sondern auch bereichernd für Patient:innen und Therapeut:innen sein können. Von grundlegenden Übungen bis hin zur Gestaltung einer einladenden Praxis: Lassen auch Sie sich dazu inspirieren, den Körper stärker in den Fokus der psychotherapeutischen Arbeit zu rücken.

Liebe Frau Juchmann, wenn Sie die Körperpsychotherapie in einem Satz beschreiben müssten, der neugierig macht, wie würde dieser Satz lauten?

Ulrike Juchmann: »Lass den Körper sprechen und höre ihm zu.«

Welche Rolle spielt der Körper Ihrer Meinung nach derzeit in der psychotherapeutischen Praxis bzw. in der psychotherapeutischen Ausbildung?

Ulrike Juchmann: »Der Körper wird zunehmend in den Blick genommen, auch mit spezifischen körperorientierten Verfahren. Vielleicht lässt sich sogar von einem Trend sprechen, den Körper mehr in die Richtlinienverfahren zu integrieren. Auch in der Fachliteratur wird das Thema stärker aufgegriffen. Ich finde die folgende Illustration veranschaulicht die Entwicklung ganz wunderbar:

Wenn ich aber Psychotherapeut:innen in der systemischen und verhaltenstherapeutischen Ausbildung erlebe, dann fragen sie oft nach körperorientierten Methoden. Sie sind neugierig, wissen aber nicht, wie sie den Körper sinnvoll in die Psychotherapie einbeziehen können. Es mangelt an körperbezogener Selbsterfahrung und an Seminaren zu diesem Thema in den Ausbildungen.«

Glauben Sie, dass körperorientierte Interventionen in den nächsten Jahrzehnten zunehmend zum Standard werden?

Ulrike Juchmann: »Ja, ich glaube, dass die therapeutische Arbeit mit dem Körper zunimmt. Grundsätzlich hoffe ich, dass die Arbeit integrativer und flexibler wird. Der Zeitraum von Jahrzehnten erscheint mir aber nicht zu überblicken, die technische Entwicklung geht so schnell. Wird es noch mehr virtuelle Methoden geben? Wir sehen aber jetzt schon, dass durch die Digitalisierung Menschen mit Informationen überschwemmt werden und viel Grübeln. Da ist es als Gegengewicht so wichtig, gut mit dem eigenen Körper verbunden zu sein.

Die Körperpsychotherapie und Tanztherapie haben sich vielfach neben und außerhalb der akademischen Welt entwickelt. Doch die aktuelle Forschung wird auch Skeptiker:innen überzeugen. Es gibt so viele Studien, die zeigen, dass all unsere Erfahrung verkörpert ist. Die Embodimentforschung macht deutlich, dass das, was wir uns vorstellen und denken, auf unseren Körper zurückwirkt. Umgekehrt können wir über den Körper unser Denken und unser Fühlen positiv beeinflussen, z.B. Wege aus dem Grübeln finden oder durch Bewegung angenehme Zustände fördern. Körper, Geist und Psyche sind immer miteinander verwoben. Es ist an der Zeit, die Unterscheidung zwischen Körperpsychotherapie und Psychotherapie zu überdenken. Unsere Klient:innen sind ja Menschen mit Körper und Psyche, und die wirken zusammen bei Erkrankungen und beim Gesundwerden. Deshalb brauchen Psychotherapeut:innen mehr Kompetenzen im therapeutischen Dialog mit dem Körper.«

Wie sollte eine psychotherapeutische Praxis gestaltet sein, die den Körper mehr anspricht und zur Bewegung einlädt?

Ulrike Juchmann: »Wir sollten uns fragen: Wie wirkt meine Praxis? Wozu lädt sie ein? Oft vermitteln Stühle und Flipchart die Botschaft ›Hier wird gearbeitet und gesprochen‹. Mit Naturmaterialien und Blumen können wir das Büro sinnlicher gestalten. Ein Sofa ermöglicht bequemes Sitzen, aber auch Liegen und Entspannen. Kissen und Decken laden dazu ein, es sich gemütlich zu machen. Yogamatten und Meditationskissen ermöglichen Achtsamkeits- und Bewegungsübungen. Eine Klientin von mir, die durch einen Schlaganfall schon sehr jung halbseitig gelähmt war, sagte: ›Ich liebe Ihr Sofa. Hier kann ich schmerzfrei liegen. Es erinnert mich an Selbstfürsorge und tut mir einfach gut.‹  Und es braucht etwas Platz in der Praxis, um aufzustehen und in Bewegung zu gehen. Da ich auch viele Achtsamkeitsgruppen leite, habe ich neben einem kleineren Gesprächsraum auch ein großes Zimmer, das fast wie ein Yogastudio ausgestattet ist. Es gibt Polster, Matten und Decken, Meditationskissen und Stühle für die unterschiedlichsten Körperformen und -bedürfnisse. Meine Klient:innen lieben es, für Bewegung und Achtsamkeitsübungen in diesen Raum zu wechseln. Sie sagen ›Das ist gleich eine ganz andere Atmosphäre.‹«

Gibt es spezifische körperbezogene Interventionen oder Ansätze, die Sie für bestimmte Symptome, Diagnosen oder Patientengruppen besonders empfehlen?

Ulrike Juchmann: »Aus meiner Sicht gibt es nicht die Übungen für ein Symptom oder ein Problem. Vielmehr sollte das Vorgehen, sollten die Methoden zum Thema, zum Ziel, zur jeweiligen Person und auch zum Kontext der Arbeit passen. Auch die Therapeut:innen müssen sich wohlfühlen mit den Interventionen, vertraut mit ihnen sein, ihre Wirkung wiederholt selbst erfahren haben und dem Vorgehen vertrauen. Die Psychotherapeut:innen brauchen einen Werkzeugkoffer mit körperbezogenen Übungen, aus dem sie flexibel auswählen können. Wichtig dabei ist, dass die Auswahl gemeinsam mit dem/der jeweiligen Klient:in erfolgt. Selbst auszuwählen erhöht die Bereitschaft für das Ausprobieren und motiviert, dranzubleiben.

Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Es gibt zum Beispiel einfache Übungen, die sich für viele Situationen und Themen eignen.  Ich greife mal das Schütteln des eigenen Körpers heraus. Den eigenen Körper sanfter oder stärker zu schütteln, entfaltet unterschiedliche Wirkungen: Die Aufmerksamkeit wandert vom Kopf in den Körper und ist super gegen Grübelspiralen. Das Schütteln entspannt und lockert den Körper, das hilft bei Ängsten oder dient auch der Reorientierung in dissoziativen Momenten. Ein weiterer Allrounder ist die Selbstberührung, ein lockeres Klopfen auf den Brustbereich ermutigt und beruhigt. Eine Hand auf den Bauch zu legen und den Atem dort zu spüren, zentriert und beruhigt. Das ist hilft bei depressiven Zuständen, bei Ängsten und auch bei chronischen Schmerzen.«

Wie arbeiten Sie mit Patient:innen, die eine schwierige Beziehung zu ihrem eigenen Körper haben –z.B. bei Körperbildstörungen, Scham oder Trauma?

Ulrike Juchmann: »Eigentlich so wie mit allen Klient:innen. Nicht nur die Methoden sind wichtig, sondern auch die Art und Weise wie sie anbieten und mit ihnen üben. Am besten respektvoll, ressourcenorientiert und so, dass neue Möglichkeiten entstehen. Es braucht eine vertrauensvolle, transparente Beziehungsgestaltung, denn die Arbeit mit dem Körper ist sehr persönlich. Ich gehe auch davon aus, dass jeder Mensch einen Zugang zum Körper hat oder finden kann. Wir suchen gemeinsam danach, ich mache Vorschläge, schaue aber auch, was mein Gegenüber zeigt und anbietet. Außerdem orientiert sich die körperbezogene Arbeit auch immer an den Zielen der Klient:innen. Wenn eine Person ihren Körper mehr spüren möchte, dann habe ich einen Auftrag und suche dazu passende Übungen. Ich stelle verschiedene Methoden vor und lasse den Klient:innen die Möglichkeit zu wählen. Das ist so wichtig für die Selbstbestimmung, für das Gefühl, selbstwirksam zu sein und letztlich auch die Kontrolle zu haben. Oft gibt es bei der Arbeit mit dem Körper die Angst, die Kontrolle zu verlieren und auch von den Emotionen, die dabei entstehen, überwältigt zu werden. Ich lade zu Wahrnehmungs- und Bewegungsexperimenten ein, z.B. mal die Augen zu schließen oder den Körper zu schütteln oder mit dem Körper viel Raum einzunehmen, je nach Ziel. Dabei vermittle ich, dass es kein Richtig oder Falsch gibt, sondern dass es darum geht, persönlich stimmige Zugänge zum Körper zu finden. Ich bewege mich mit, zeige und lade ein, das schafft Vertrauen und lockert die Atmosphäre.«

Welchen Ratschlag möchten Sie Kolleg:innen geben, die daran interessiert sind, körperorientierte Techniken in ihre Praxis zu integrieren?

Ulrike Juchmann: »Selbsterfahrung. Selbsterfahrung und Selbsterfahrung. Fragen Sie sich selbst, was Sie brauchen, um sich in Ihrem Körper wohl zu fühlen. Mit welchen Sportarten und Bewegungsangeboten haben Sie Erfahrung? Achten Sie in der therapeutischen Arbeit mehr auf Ihren Körper. Wie können Sie sich entspannen? Welche Körpersignale erleben Sie während der Therapiesitzungen? Und überlegen Sie sich dann, welche Klient:innen von einer körperorientierten Vorgehensweise profitieren könnten. Nehmen Sie an einer Fortbildung zu körperorientierten Methoden teil.  Stellen Sie sich einen Pool von einfachen, konkreten Übungen zusammen.«

Gibt es eine einfache Übung, die Kolleg:innen in ihrer therapeutischen Praxis einmal ausprobieren können, um auf den Geschmack zu kommen?

Ulrike Juchmann: »Ich empfehle das Schütteln. Stehen Sie bitte einfach einmal auf, spüren Sie Ihre Füße in stabilem Kontakt mit dem Boden und nehmen Sie Sie Kontakt mit dem Atem in Ihrem Körper auf. Dann beginnen Sie, Ihre Hände, Arme und Schultern zu schütteln. Seien Sie neugierig, wie sich der Rücken schütteln lässt, Po, Becken und Beine. Lassen Sie den Atem frei fließen. Versuchen Sie auch, Arme und Beine weit in den Raum zu schütteln, zu allen Seiten, stellen Sie sich vor, Sie schütteln etwas ab. Und wenn Sie mögen, lassen Sie Ihren Körper mal von selbst schütteln, ohne dass Sie sich anstrengen müssen. Der Körper schüttelt sich von selbst. Lassen Sie das Schütteln dann langsam ausklingen und spüren Sie im Stehen oder Sitzen nach.

Was haben Sie erlebt? Wie fühlt sich Ihr Körper jetzt an? Hat sich Ihre Stimmung verändert? Konnten Sie beim Schütteln Grübeln?

Lassen Sie uns alle in der Psychotherapie mehr in den Körper und in die Bewegung kommen. Das tut uns Therapeut:innen und den Klient:innen gut!«

Vielen Dank, Frau Juchmann, für das inspirierende Gespräch. Das Interview hat uns eindrucksvoll aufgezeigt, wie wichtig der Körper in der Psychotherapie ist. Wir hoffen, dass Ihre Ideen viele Kolleginnen und Kollegen zum Ausprobieren anregen!

Die Expertin

Ulrike Juchmann ist als Diplom-Psychologin, systemische Therapeutin, Verhaltenstherapeutin und MBSR-Trainerin in eigener Praxis in Berlin und an Ausbildungsinstituten tätig. Sie coacht Frauen mit ihrem kreativen, ganzheitlichen Methodenansatz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Achtsamkeit, Körperzufriedenheit, Selbstfürsorge und Lebensübergänge. Sie ist Autorin mehrerer Fach- und Sachbücher. www.achtsamkeit-juchmann.de

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