Menschlichkeit zeigen – Patient:innen im Umgang mit Tod und Sterben begleiten

Tod und Sterben können in Beratungs- und Therapieprozessen jederzeit zum Thema werden. So können Betroffene einerseits schon mit einer entsprechenden Frage in die Behandlung kommen, beispielsweise wenn bei ihnen selbst oder einer wichtigen Bezugsperson eine schwere Erkrankung vorliegt. Tod und Sterben können aber auch völlig unerwartet in eine laufende Behandlung »einbrechen« – beispielsweise durch einen Befund bei einer Routineuntersuchung oder einen Unfall. Für viele Therapeut:innen ist so etwas besonders herausfordernd, vor allem dann, wenn die Professionellen eine starke Problem-Lösungs-Orientierung haben. Denn Tod und Sterben sind keine »lösbaren Probleme«, sondern vielmehr Tatsachen des Lebens, zu welchen wir im Wesentlichen nur eine Einstellung erringen können, die einen Gestaltungsspielraum erlaubt. Die folgenden beiden Fallbeispiele sollen aufzeigen, wie eine gute Begleitung in solchen Fällen aussehen kann.

Frau F.: »Ich könnte schreien, weil alle mich nur beruhigen und beschwichtigen wollen!«

Frau F., 38 Jahre alt, kommt nach Vermittlung durch ihren Onkologen zu mir in Therapie. Vor einem Jahr wurde bei ihr im Rahmen einer Vorsorgeuntersuchung ein bösartiger Darmtumor gefunden und mit OP und Chemotherapie behandelt. Obwohl es nach der Behandlung seitens der sie behandelnden Ärzte eine gute Prognose gebe, mache sie sich sehr große Sorgen und sei seit der Erkrankung gewissermaßen »shell-shocked«. Besonders schwierig sei für sie, dass ihr Umfeld – Ehemann, Eltern, enge Freunde... – nichts von ihren Ängsten wissen wollen würden. »Jetzt freu dich doch, dass auf den Bildern nichts zu sehen ist, dass du es ausgestanden hast!« Sie könne zwar einerseits verstehen, dass das letzte Jahr für ihr Umfeld sehr hart gewesen sei und alle am liebsten nichts mehr vom Thema Krebs hören wollen würden, aber andererseits könne sie einfach nicht zur Tagesordnung übergehen und sei voller Angst, habe Alpträume und sei sich völlig unsicher in Bezug auf die Zukunft. Das habe so weit geführt, dass sie inzwischen im Umgang mit ihrem Mann und ihren Eltern schnell sehr gereizt und aggressiv sei. Sie habe ihrem Onkologen davon berichtet, und dieser habe ihr empfohlen, eine Psychotherapie zu machen. Ich bestätige ihr die Angemessenheit dieses Schritts, weil ich als Außenstehender komplett für sie da sein könne, was ihre Ängste angehe, und wie sie Verständnis dafür hätte, dass ihre Angehörigen aufgrund der persönlichen Wichtigkeit und der Nähe mit solchen Themen einfach überfordert seien. Wir führen über mehrere Wochen hinweg Gespräche, bei welchen ich Frau F. im Wesentlichen einfach nur zuhöre, sie validiere und ihr erlaube, den angestauten Angst-Druck abzulassen.

Die Angst vor dem Tod wird wahr

Leider zeigt sich bei einer der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen nach ungefähr drei Monaten, dass der Krebs zurückgekommen ist – es werden Metastasen in Lunge und Leber gefunden. Ich begleite Frau F. weiter bei dem nun wieder einsetzenden Behandlungsmarathon mit Operation, Bestrahlungen und Chemotherapie. Bedauerlicherweise erweist sich der metastasierende Krebs als sehr aggressiv, sodass bald klar wird, dass dieser Kampf nicht zu gewinnen ist – ein tragisches Beispiel dafür, dass Ängste bei schweren Erkrankungen völlig anders zu sehen sind als irrationale Ängste im Kontext üblicher Angststörungen. In den Vordergrund der Behandlung rückt zunehmend die Frage, wie das Paar mit den drei Kindern (zu dem Zeitpunkt 2, 4 und 8 Jahre alt) sprechen soll. Zu unseren Einzelgesprächen kommen immer wieder Paargespräche hinzu. All diese Gespräche pendeln zwischen den Extremen, die in der Arbeit mit Personen, die von Tod und Sterben betroffen sind, so normal sind: In manchen Stunden stehen fast schon bürokratisch-sachliche Themen im Vordergrund, wie z. B. die Frage der zukünftigen finanziellen Situation des hinterbleibenden Herrn F. oder die Frage des Umgangs mit bestehenden Social-Media-Accounts. In anderen Stunden hingegen geht es emotional tief und wird für uns sowohl in den Einzel- als auch den Paarsitzungen sehr berührend: «Meine 2-jährige Tochter wird später gar keine Erinnerung an mich haben, so als wär‘ ich gar nicht da gewesen«.

Therapeut:innen müssen die eigene Machtlosigkeit akzeptieren

In diesen Stunden bin ich in Bezug auf das, was Frau F. und auch ihr Mann »eigentlich« brauchen, völlig ohnmächtig – nämlich dafür zu sorgen, das Frau F. überleben wird. Gerade dann ist essentiell, dass wir Therapeut:innen angesichts der eigenen Machtlosigkeit nicht einknicken und vermeiden, sondern emotional zugewandt und »dabei« bleiben. Wir sollten mutig an der Seite der Patient:innen stehen, sie begleiten und dem zu tragenden Schicksal gemeinsam ins Auge schauen. Ich begleite Frau F. noch für ungefähr ein Jahr, in dem sie als wichtigstes Projekt ein Buch für ihre Kinder schreibt – »Bilder und Gedanken für später, wenn ich nicht bei euch sein kann«. Außerdem unterstütze ich das Paar im offenen Sprechen darüber, was beide bewegt und ihnen wichtig ist - zum Beispiel für Frau F., dass sie sich von ihrem Mann wünscht, den Kindern regelmäßig von ihr zu erzählen. Als sie schließlich stirbt, bin ich im Ausland und kann nicht zur Beerdigung kommen, worum mich das Paar gebeten hatte. Ich treffe Herrn F. nach meiner Rückreise am Grab seiner Frau und wir haben anschließend noch drei weitere Sitzungen, in denen wir vor allem über Fragen rund um den Umgang mit den Kindern sprechen.

Herr K.: Der Tod als Schrittmacher des Seins

Herr K., 42 Jahre, ist seit einem halben Jahr wegen seiner Sozialen Phobie bei mir in Behandlung. Die Therapie läuft ziemlich geordnet und »manualgemäß« vor sich hin und Herr K. macht schöne Fortschritte, die ein baldiges Ende der Behandlung am Horizont erscheinen lassen. Als ich ihn einmal  im Wartezimmer abhole, sehe ich aber schon bei der Begrüßung, dass etwas Gravierendes passiert sein musste und meine Vorbereitung auf die Stunde vermutlich überflüssig gewesen sein dürfte. Ich spreche ihn direkt darauf an: »Ihr Blick ist ganz anders als sonst. Ist etwas passiert?« Das war es in der Tat.

Durch die Konfrontation mit dem Tod die eigenen Werte überdenken

Herr K. berichtet, dass am Vortag sein bester Freund völlig unerwartet und plötzlich verstorben sein – »Ein Herzstillstand. Er ist einfach umgefallen und war wohl tot, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.« Er sei nicht dabei gewesen, aber die Frau seines Freundes habe ihn informiert. Dieser Todesfall so »ganz in der Nähe« erschüttert Herrn K. bis in die Grundfesten. »Das hätte auch ich sein können. Wir sind gleich alt. Ich meine, wir waren gleich alt. Und jetzt ist Steffen einfach weg, mitten aus dem Leben gerissen. Ich weiß gerade nicht, was das eigentlich bedeutet, aber es bedeutet etwas für mich, das spüre ich ganz deutlich.« Diese Fragen schieben alles, was mit Sozialer Phobie zu tun hat, erst einmal komplett beiseite, und in den nächsten Stunden beschäftigt sich Herr K. mit Fragen, die ihm durch den Tod seines Freundes erst bewusst werden. Was will er mit seinem Leben überhaupt anfangen? Was ist wichtig, was nicht? Was sind seine Werte? Welche Beziehungen in seinem Leben haben welche Bedeutung? Will er eigentlich noch Kinder, oder ist das jetzt nur ein blödsinniger egoistischer Gedanke? Unsere Therapie bekommt durch diese Fragen einen völlig neuen Charakter, der zwar eine tragische Grundnote trägt, für Herrn K. aber zu einer starken Vertiefung des Lebens führt. »Mir wird klar, dass ich mit vielen Dingen wirklich meine Zeit verschwende. Das Leben ist kostbar, unsere Tage sind gezählt. Ich will das Beste daraus machen«. Die Soziale Phobie, wegen der Herr K. ursprünglich gekommen ist, spielt in der weiteren Behandlung zwar immer noch eine Rolle, aber es sind die zentralen Ziele und Werte seines Lebens, die im Mittelpunkt stehen.

Ein existenzielles Fazit 

Unsere Sterblichkeit ist nicht nur persönlich, sondern natürlich auch therapeutisch extrem herausfordernd. Das Wichtigste, was Berater:innen und Therapeut:innen im Kontakt mit Betroffenen tun können, ist, sich nicht wegzuducken und zu vermeiden, sondern trotz der eigenen Angst und Begrenztheit verfügbar zu bleiben und Menschlichkeit zu spenden.

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Der Autor


Prof. Dr. Alexander Noyon , Dipl.-Psych., Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor. Seit 2007 Professur für Psychologie in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Mannheim. Begleitend Tätigkeit als Psychotherapeut in eigener Praxis. Ausbildungen in Verhaltenstherapie und Logotherapie/Existenzanalyse, seit vielen Jahren Dozent und Supervisor für Verhaltenstherapie und Logotherapie an unterschiedlichen Instituten.

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