Mitfühlendes Zuhören – Wie es in herausfordernden Therapiesituationen zum »Gamechanger« werden kann

Einer der wichtigsten allgemeinen Wirkfaktoren in der Psychotherapie ist die therapeutische Beziehung. Je authentischer, sicherer und klarer sie ist, desto besser ist die Prognose für einen hilfreichen und heilsamen Entwicklungs- und Veränderungsprozess. In allen Therapieschulen gibt es vielfältige Konzepte zum Verständnis von Symptomatik und Schwierigkeiten, die helfen, sich immer wieder neu einzulassen und ebenso gut auch wieder distanzieren zu können.

Was aber tun, wenn wir Therapeut:innen uns im Kontakt trotz alledem zu belastet fühlen? Wenn wir genervt reagieren und den Klient:innen unterschwellig vermitteln, dass wir mit ihnen nicht arbeiten können, weil sie zu schwierig seien?

Mitfühlendes, körperbasiertes Zuhören kann dann eine wichtige Energie- und »Nahrungsquelle« für Therapeut:innen sein und ein »Gamechanger« in der Therapie werden. Ich profitiere sehr oft von dieser Fähigkeit, wie sich eindrucksvoll in den folgenden Praxissituationen zeigt. 

Praxisbeispiel 1: »Ich arbeite härter als meine Klientin…«

Frau Hansen*, selbst im therapeutischen Kontext tätig und mit viel Erfahrung gerade auch im Umgang mit depressiven Zuständen, erlebte eine heftige Lebenskrise: Im Zuge einer Ehekrise, einer neuen Verliebtheit und dann der Entdeckung einer schon länger bestehenden Zweitbeziehung des Mannes stürzte sie in ein tiefes Loch. Die Erfahrung einer bereits in der Kindheit erlebten Beziehungslosigkeit wurde wieder aktiviert. Es zog ihr den Boden unter den Füßen weg bis hin zur Suizidalität.

Die Strukturen, Hintergründe, Bewältigungsstrategien, aber auch ihre Ressourcen und vielfältigen Kraftquellen im Leben und Alltag haben wir in vielen Stunden erörtert, nachempfunden und neu geordnet. Dabei schälte sich zwischen uns ein Interaktionsmuster heraus, das mich zunehmend an den Rand meiner Geduld brachte: Die Sitzungen schienen im Verlauf immer hilfreiche Erfahrungen und Erkenntnisse zu bringen, von denen ich annahm, dass die Klientin sie weiter beobachten und ausprobieren würde. Ich nahm an, sie würde sie nutzen, um sich langsam aus dem Loch herauszuarbeiten. Zu Beginn jeder folgenden Sitzung aber erzählte sie wieder ausgiebig von Erfahrungen scheinbar endloser Wiederholungen leidvoller Wahrnehmungen und Erlebnisse, als hätte sie nicht bereits anderes wiederentdeckt. Meine Aufgabe war es, dies anzuerkennen und sie immer wieder an ihre Ressourcen und guten Erfahrungen zu erinnern, damit sie dann wieder gestärkt aus der Sitzung gehen konnte. Es wirkte wie eine eingespielte Spielregel: Sie zieht runter, ich baue auf. Ich hatte das Gefühl, ich »arbeitete härter als meine Klientin«. Ich erlahmte zusehends und fühlte mich immer hoffnungsloser, wie es weitergehen sollte.

Zu dieser Zeit hatte ich gerade meine Ausbildung zur Lehrerin für Mindful Self-Compassion (MSC; nach C. Germer und K. Neff) absolviert, gab meine ersten Kurse und versuchte, Selbstmitgefühl in die Psychotherapie zu integrieren. Als ich immer mehr unter der Schwere des therapeutischen Prozesses litt, erinnerte ich mich an die Möglichkeit, mich selbst auch während des Kontaktes mit anderen durch Mitgefühl zu nähren und dieses dann an das Gegenüber weiterzugeben.

Ich beschloss, zu Beginn der nächsten Sitzung einfach einmal nichts zu tun. Nichts, außer mich selbst mit einer wohltuenden Berührung zu trösten und in der Vorstellung Mitgefühl, das ich ja in jedem Fall hatte, für die Klientin auszuatmen. (Sehen Sie die Anleitung unten.) Etwas von dieser veränderten Energie in meiner Haltung muss sich übertragen haben. Keine zwei Minuten danach begann die Klientin zu erzählen, womit sie in letzter Zeit trotz schwieriger Umstände kleine positive Erfahrungen gemacht hatte. Das Spiel hatte sich unangestrengt verändert. Die emotionale Abwärtsspirale hatte sich in eine Aufwärtsspirale verwandelt.

Praxisbeispiel 2: Wie ich es durch mitfühlendes Zuhören aushalten konnte, dass meine Patientin Erlebnisse schilderte, die allein beim Hören unerträglich waren

Frau Maler, eine Klientin, die im Übergang zu einem längeren stationären Aufenthalt in meiner ambulanten Behandlung war, litt an einer schweren Dissoziativen Identitätsstörung mit einer Vorgeschichte schwersten rituellen Missbrauchs. Dennoch war sie hochfunktionell, arbeitete im medizinischen Bereich. Ihre Erzählungen und Erlebnisse waren für mich allein beim Zuhören oft nur schwer auszuhalten und von unvorstellbarer Brutalität. Ich fragte mich oft, welche Schritte möglich seien und was ich überhaupt tun könne, außer da zu sein.

Das mitfühlende Zuhören half mir sehr, gut im Kontakt bleiben zu können. So gut ich es vermochte, konnte ich so eine klare, möglichst authentische Beziehung aufrechterhalten und die Klientin auf diesem Therapieabschnitt begleiten. Einige Jahre später erzählte sie mir, dass sie gerade diese Idee von Mitgefühl und Selbstmitgefühl (in ganz kleinen Schritten) aus unseren Sitzungen mitgenommen habe und sich genährt fühle, wenn sie sich daran erinnere und Übungen dazu mache.

 

Eine schrittweise Anleitung, um mitfühlendes Zuhören mithilfe Ihrer Körperempfindungen zu üben

Die Beispiele oben verdeutlichen: Jenseits gezielter Interventionen kann uns mitfühlendes Zuhören, besonders während herausfordernder Therapiesituationen stärken und den Stress, der dabei in uns entsteht, abbauen helfen. Indem wir uns gerade dann Momente der Erfahrung von Selbstmitgefühl gönnen, können wir präsent und mitfühlend mit den Klient:innen bleiben, ohne in den Aktionismus des »Beheben-wollens« zu verfallen. Der Respekt vor dem Tempo und der Eigenverantwortlichkeit der Klient:innen und vor unseren eigenen Grenzen bleibt gewahrt.

Haben Sie zurzeit auch einen Klienten oder eine Klientin, wo Sie sich manchmal »mit Ihrem Latein am Ende fühlen?« Dann lade ich Sie ein, während Ihrer nächsten Sitzung mit der folgenden Übung eine Haltung und Erfahrung zu probieren, die es Ihnen und Ihrem Gegenüber leichter machen kann.

1. Verankern

  • Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um Ihre eigene Sitzfläche und Fußsohlen wahrzunehmen. Ganz so, wie sie jetzt in diesem Moment sind.
  • Sie können der Klient:in sagen, dass Sie für einige Minuten einfach nur zuhören werden und später etwas sagen werden, falls Sie normalerweise eher aktiv im Gespräch sind. (Die Tatsache, dass Sie sich für einen Moment mehr sich selbst zuwenden, wird vom Gegenüber in der Regel nicht als Abwesenheit, sondern als mehr Präsenz wahrgenommen)
  • Lassen Sie sich für eine Weile weniger mit Ihren Ohren, mehr »mit Ihrem Körper und seinen Empfindungen zuhören«.

2. Beruhigende, tröstende Berührung

  • Suchen Sie für sich eine beruhigende Berührung (Hand auf dem Herzbereich, auf dem Solarplexus oder wo immer es Ihnen guttut), nehmen Sie die Wärme unter Ihrer Hand ganz bewusst wahr und genießen Sie es!

3. Den Atem spüren

  • Spüren Sie, während Sie Ihrer Klientin zuhören, für eine Weile Ihren eigenen Atem im Körper, ganz so, wie er ist, ohne ihn zu verändern. Wenn sich dabei ein vertiefter Atemzug einstellt, genießen Sie es, wenn nicht, ist das auch völlig in Ordnung.

4. Einatmen für sich - ausatmen für das Gegenüber

  • Stellen Sie sich bei jedem Einatmen vor, wie Sie sich selbst mit köstlichem Sauerstoff und Energie gefüllt werden, ganz ohne etwas tun zu müssen.
  • Sie können sich zusätzlich in der Vorstellung mit einer wohltuenden Qualität versorgen wie Wärme, Mitgefühl, Wohlwollen, und sich zudem etwas sagen, was Sie gerade gut gebrauchen können, z.B.: »Möge ich mich kräftig fühlen«, »Möge ich liebevoll zu mir sein, gerade weil ich den Moment als schwierig erlebe«, »Möge ich so präsent sein, wie ich kann und meiner Klientin ihre eigene Lebensreise mit all ihren Schwierigkeiten zutrauen«…
  • Genießen Sie mit jedem Ausatmen Ihre Entspannung, die sich dabei ganz von selbst einstellt.
  • Aus dieser Fülle heraus können Sie sich nun erlauben, der Klient:in etwas Entspannung und eine Qualität zu senden, von der Sie denken, dass er/sie es brauchen kann.
  • Dosieren Sie, ob Sie selbst vielleicht etwas mehr Genährtwerden brauchen und gönnen sich mehrere Atemzüge für sich, oder ob Sie sich bereit fühlen, etwas mehr fürs Gegenüber auszuatmen.
  • Vielleicht passt es, einen gleichmäßigen, nährenden Strom des Mitgefühls zu spüren: »Ein für mich – Aus für dich«

 

Mitfühlendes Zuhören kann ein »Gamechanger« in Psychotherapien sein: Indem wir unsere Präsenz und das Mitgefühl für uns und das Gegenüber stärken, reduzieren wir unser eigenes Stresserleben, lassen die Verantwortung bei den Klient:innen  und erfüllen doch deren immenses Bedürfnis nach »Gehört-Werden« und »Zumutbar-Sein«. Wir Therapeut:innen sind oftmals mit traumatischen Erzählungen und starken Emotionen konfrontiert.  Momente des mitfühlenden Zuhörens helfen, eine gute Balance zu halten, die therapeutische Beziehung weiterzuentwickeln und Therapiefortschritte überhaupt erst möglich zu machen. Probieren Sie es aus!

* Namen wurden von der Autorin verändert.

 

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Die Autorin

© privat

Margarete Malzer-Gertz ist Fachärztin für psychotherapeutische Medizin (TP), Systemische Therapeutin, Supervisorin und Coach (SG, DGSF) mit eigener Praxis seit 1993. Schwerpunkt Gruppentherapie. KBT, Integrative Tanztherapie, EMDR, PEP. Zertifizierte MSC-Trainerin. Seit 2010 Dozentin an verschiedenen Ausbildungsinstituten im Bereich Gruppentherapie und -Selbsterfahrung. Seit 2020 Praxisgruppenleiterin im SCIP-Programm (Self-Compassion in Psychotherapy) des CMSC, San Diego, CA.

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