Vielleicht habe ich einen »Tatort« zu viel gesehen, aber neulich hatte ich den Gedanken: Was würde passieren, wenn – Gott bewahre – mein Freund Thomas ermordet würde? Ich müsste wahrscheinlich mit einem baldigen Besuch von Frau Lindholm oder Herrn Thiel rechnen – zumindest, wenn sich die Ermittler die Mühe machen würden, einen Blick in Thomas‘ Handynachrichten zu werfen. In unserem Chat würden sie Dinge lesen, die den Eindruck erwecken könnten, wir seien bis aufs Blut verfeindet. Wir schicken uns fast ausschließlich Unverschämtheiten, bei denen wir nichts aussparen: Unsere Berufe (er ist Lehrer, natürlich ein schlechter), unsere Lebensführung, unsere charakterlichen Macken, unsere körperlichen Gebrechen, unsere Leibesfülle – nichts ist uns heilig, wenn wir uns gegenseitig durch den Kakao ziehen. Aufs Schwerste beleidigt wäre ich, solche Dinge unter anderen Umständen an den Kopf geknallt zu bekommen. Bei ihm ist es ein großer Spaß.
Worte können wehtun, kränken, verletzen, gewiss. Ein »Blödmann«, ein »Wie dick willst du eigentlich noch werden?«, ein »Da sieht man mal wieder, wie unfähig du bist« können wehtun wie ein Tritt in den Magen – oder große Heiterkeit auslösen. Wieso ist das so?
It’s the context, stupid!
Oje, jetzt habe ich Sie stupid, dumm, genannt! Ich vertraue darauf, dass Sie es mir nicht allzu übel nehmen und aus dem Kontext, in dem das Wort steht, schließen, dass ich Sie nicht beleidigen wollte. Kontext ist jedenfalls das Zauberwort. Ob Worte uns aufregen oder kaltlassen, ob sie uns lähmen oder beflügeln, ob sie uns wehtun oder erheitern, hängt nicht nur von ihrem Inhalt ab, sondern in hohem Maße von der Umgebung, in der sie gesprochen oder gedacht werden. Diesen Umstand macht sich die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) zunutze, indem sie darauf abzielt, die Wirkung von Gedanken zu beeinflussen, ohne notwendigerweise ihren Inhalt zu verändern. Die Tatsache, dass bestimmte Überzeugungen und Denkweisen einen erheblichen Anteil an der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Störungen haben, konnten Vertreter der Kognitiven Therapie herausarbeiten, allen voran Albert Ellis und Aaron Beck. Ja, depressive Menschen haben beispielsweise oft eine negative Sicht auf sich selbst, ihre Situation und ihre Zukunft, und lassen sich von ihren negativen Gedanken herunterziehen. Ernüchternd ist hingegen der Blick auf Versuche, solche »dysfunktionalen Überzeugungen« nachhaltig zu verändern, sei es durch gute Argumente oder durch sogenannte »korrektive Erfahrungen«. Hat sich ein bestimmter Gedanke erst einmal in unserem kognitiven System festgesetzt, werden wir ihn nicht mehr los. Das System lernt hinzu, wir können neue Gedanken aufnehmen, alte ausdifferenzieren, aber: Gelernt ist gelernt – das gilt fürs Fahrradfahren genauso wie z. B. für bestimmte Grundannahmen über die eigene Person wie »Ich bin nichts wert« oder »Ich habe keine Zukunft«. Wer einmal versucht hat, einen schwer depressiven Menschen vom Gegenteil zu überzeugen, weiß: Das ist oft vergebliche Liebesmüh – zumindest wenn das Ziel darin besteht, solche negativen Gedanken loszuwerden oder sie durch rationalere oder positive zu ersetzen. Die Bemühungen um eine »kognitive Umstrukturierung« arten nicht selten in eine Art Tauziehen aus: Patientin und Therapeutin zerren gemeinsam an dem einen Ende des Seils, die negativen Gedanken auf der anderen Seite ziehen umso heftiger zurück.
Das Seil loslassen und das Tauziehen beenden
Metaphern sind in der ACT sehr beliebt – und die vom Tauziehen mit dem Verstand ist eine der bekanntesten. Wenn dieses Tauziehen nicht zu gewinnen ist, dann lass los! Lass los, so wie die Schülerin, die von ihren Klassenkameraden gepiesackt wird und irgendwann sagt: »Dann bin ich eben doof«. So wie der Sohn der überängstlichen Mutter, die darauf besteht, dass er auch noch bei milden Temperaturen die Wollmütze aufsetzt, irgendwann sagt: »Dann hole ich mir eben den Tod«. Nein, sie ist nicht doof, nein, er will nicht sterben, sie steigen einfach aus einem Spiel aus, das sie nicht gewinnen können.
Diesen Ausstieg aus dem Spiel, das der Verstand mit uns spielt, nennt ACT Defusion. Defusion bedeutet, den Kontext von Gedanken und damit ihre Wirkung auf uns zu verändern. Aus »Ich bin nichts wert« wird »Ich habe gerade den Gedanken, dass ich nichts wert bin« – und das sind zwei grundverschiedene Dinge.
Was können Sie in der Therapie tun, um Ihre Patienten darin zu unterstützen, ihre Fähigkeit zur Defusion weiterzuentwickeln und zu nutzen? Hier einige Hinweise:
- Arbeiten Sie ressourcenorientiert. Erkundigen Sie sich danach, unter welchen Bedingungen es Ihren Patienten gelingt, bestimmten Gedanken weniger Macht zu geben. Ob und wann z. B. ein Patient mit einer Zwangsstörung einen Zwangsgedanken »einfach mal loslassen« kann.
- Setzen Sie Humor ein. Verstärken Sie Ihre Patientin, wenn sie Humor zeigen, insbesondere, wenn sie über ansonsten schwierige Gedanken lachen können. Testen Sie auch selbst aus, wie weit Sie gehen können, wenn es darum geht, Humor einzusetzen. Seien Sie ruhig mutig, achten Sie aber auf die Reaktionen Ihres Gegenübers und entschuldigen Sie sich im Zweifelfall für einen »blöden Witz«.
- Seien Sie ein gutes Vorbild. Vermitteln Sie explizit und implizit, dass Sie Worte und Gedanken als Werkzeuge für einen bestimmten Zweck betrachten, nicht mehr und nicht weniger. Verzichten Sie darauf, Ihre Patienten von irgendetwas überzeugen zu wollen, und darauf, Recht behalten zu wollen. Wenn ein Argument, wie gut es auch sein mag, sie nicht erreicht, dann lassen Sie es.
- Vermitteln Sie Ihren Patienten einen spielerischen Umgang mit Gedanken. In der ACT-Literatur werden dazu zahlreiche Techniken beschrieben. Man kann einen Gedanken singen, ihn mit einer Micky-Maus-Stimme oder einem schweren Akzent aussprechen, ihn in schlechtes Englisch übersetzen, auf einen Zettel schreiben und mit Blümchen verzieren, ihn von hinten nach vorne lesen, ihn eine Minute lang so oft wie möglich hintereinander aufsagen und so weiter. Ein nettes Spiel ist die Schlimmste-Gedanken-Olympiade. Okay, »Ich habe mal wieder versagt« ist schon nicht schlecht, aber dafür gibt es höchstens Bronze. Für Silber muss es schon so etwas wie »Ich bin ein richtiger Loser« sein. Und für Gold?
- Formale Achtsamkeitsübungen, bei denen sich die Patientinnen zum Beispiel ein Bild mit einer fließenden Bewegung vorstellen, in die sie ihre Gedanken einbauen, sind eine gute Möglichkeit, das gelassene Betrachten und Loslassen von Gedanken zu üben. »Stellen Sie sich ein Wasserbecken vor, in dem langsam Luftblasen aufsteigen. Beginnen Sie, die Gedanken, die Ihnen in den Sinn kommen, einen nach dem anderen in die Luftblasen zu setzen und zu beobachten, wie sie Richtung Wasseroberfläche ziehen.«
- Nutzen Sie hilfreiche Metaphern. Eine meiner Lieblingsmetaphern für schwierige Gedanken ist der Vergleich mit Angelhaken. Wir als »Menschenfische« haben keine Möglichkeit zu entscheiden, ob ein Angelhaken vor uns auftaucht und wie sich das anfühlt, aber es liegt an uns, ob wir anbeißen oder weiterschwimmen.
Ich darf nicht vergessen, Thomas zu schreiben, dass ich ihn in einem Blog erwähnt habe, er ihn aber nicht zu lesen braucht, weil er ihn mit seinen beschränkten geistigen Möglichkeiten sowieso nicht verstehen würde.
Exklusiver Live-Workshop
Erleben Sie Dipl.-Psych. Matthias Wengenroth am 16. September, 17:00 bis 18:30 Uhr, in einem exklusiven Online-Vortrag »Nicht die Gedanken, sondern ihre Wirkung verändern: Defusionstechniken aus der Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT)« zum Thema im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe!
Der Autor
Dipl.-Psych. Matthias Wengenroth ist als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Solingen tätig und setzt dabei seit etwa anderthalb Jahrzehnten die Akzeptanz- und Commitmenttherapie ein. Über ACT hat er sowohl für das Fachpublikum (»Therapie-Tools Akzeptanz- und Commitmenttherapie«) als auch für interessierte und betroffene Laien publiziert (»Das Leben annehmen«, »Gib dich nicht auf«, »Den inneren Kompass finden«).