Training für den Achtsamkeitsmuskel: Mit Kindern das Innehalten üben

Die Achtsamkeitspraxis aus der dritten Welle der Verhaltenstherapie bedient sich der ursprünglich aus dem Buddhismus stammenden Praxis. Dass Achtsamkeit bei Erwachsenen mit psychischen Störungen gute Effekte erzielt, belegen verschiedene Studien. Im letzten Jahrzehnt weisen einige Studien darauf hin, dass sich Achtsamkeitstechniken auch bei Kindern und Jugendlichen im klinischen und nicht-klinischen Setting positiv auswirken. Bei Erwachsenen bewährte Trainings wurden für Kinder und Jugendliche angepasst, z.B. MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction)-Adaption für Kinder von 8-12 Jahre (Salzmann & Goldin, 2011) oder MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) für Kinder von 9-13 Jahre (Semple & Lee, 2014). Eine neuere Metaanalyse konnte zeigen, dass der Einsatz achtsamkeitsbasierter Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS die ADHS-Gesamtsymptomatik mit großem Effekt reduziert (Linderkamp & Lüdeke, 2019).

Wie wirksam einzelne Interventionen (wie alle, die hier folgen werden), im einzeltherapeutischen Setting sind, muss weiter erforscht werden. Doch die Praxis zeigt mir, dass sehr viele kleine Patient:innen Achtsamkeitsübungen mögen, sie hilfreich finden und sie ihnen Aha-Momente in der Therapie verschaffen. Man kann mit den Kindern ganz spielerisch im Rahmen der Einzeltherapien verschiedene Übungen ausprobieren. Dabei gilt das Motto: Alles kann, nichts muss – für manche Kinder passt Achtsamkeit besser als für andere. Das Nachbesprechen der Empfindungen und Erfahrungen kann Anlass bieten, allen Gefühlen, die aufkommen, achtsam zu begegnen. Auch wenn ein Kind die Übung »doof« oder »bescheuert« findet – unangenehme Gefühle werden begrüßt: »Okay, das ist dir schwer gefallen.« Fragen Sie nach: Was war schwierig? Was hat dir nicht gefallen? Wie hat sich das angefühlt? Und bestärken Sie: »Es ist okay, wenn sich auch mal etwas ungut anfühlt. Achtsamkeit hat nicht das Ziel sich toll anzufühlen, sondern überhaupt zu fühlen, was da ist.«
Also lassen Sie uns gemeinsam ein paar Beispiele für Achtsamkeitsübungen für Kinder entdecken, vielleicht finden Sie ja etwas Inspiration für neue spielerische Interventionen.

Eine Übung zum achtsamen Beobachten

Kinder kennen meist die Empfindung, wenn es sie irgendwo juckt. Und nun sollen sie sich vorstellen, dass sie nicht kratzen, sondern das Jucken einfach beobachten, es da sein lassen, dem Jucken sozusagen erlauben, da zu sein. »Hallo Jucken, willkommen, so fühlst du dich also an.« Probieren Sie es mal selbst: Ganz schön herausfordernd.
Wir wollen, dass die Kinder wissen, dass es keinem gelingt einfach so achtsam zu sein. Nein, es ist normal, wenn es schwerfällt. Achtsamkeit muss geübt werden: Achtsam-Sein ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss, damit er stärker wird.

Achtsam Kakao trinken

Wie Thich Nhat Hanh sagt, ist Achtsamkeit die Kunst, in jedem Moment geistig präsent zu sein und somit voll und ganz in der Gegenwart zu leben. Das heißt, alles, was wir tun, können wir auch achtsam tun. Kinder können das Achtsam-Sein also durch kleine Experimente, Spiele und Alltagsübungen erleben. So können wir in der Therapiestunde achtsam Kakao trinken, achtsam ausmalen oder achtsam aus dem Fenster schauen. Wichtig ist dabei immer die Haltung, die wir als Therapeut:innen vermitteln: Es geht darum, zu beobachten, wie sich etwas anfühlt, was eine Übung mit uns macht und alles was kommt, anzunehmen.

Die kleine Übung der Langsamkeit

Die Kinder werden bei dieser Übung dazu angeleitet, so langsam wie möglich aufzustehen, im Schneckentempo einige Schritte zu gehen und so langsam zu sprechen, wie sie nur können. Dabei sollen sie sich selbst genau beobachten. Konzentrieren sich die Kinder während dieser wenigen Minuten völlig auf sich und ihren Körper, dann sind sie im Moment.

Kinder als Achtsamkeits-Forscher

  • Naturforscher. Kinder lieben es als Forscher alles Mögliche zu erkunden. Sie sind von Natur aus neugierig und haben den »Anfängergeist« (also die Haltung, alles mit frischen und neugierigen Augen zu betrachten, so als hätten sie es noch nie zuvor gesehen) noch nicht so abgelegt, wie wir Erwachsenen. Für Kinder ist vieles sowieso noch spannender, z.B. das Beobachten von Käfern in der Natur, das Suchen von Kaulquappen im Teich … und das können wir nutzen, um ihnen das Konzept der Achtsamkeit näher zu bringen. Wir können die Details der Muster einer Muschel achtsam betrachten oder ein Stück Obst langsam und achtsam riechen, kauen und schmecken.
  • Den eigenen Verstand erforschen. Auf der Entdeckungsreise können wir mit Kindern auch den eigenen Verstand erforschen. Was sind eigentlich Gedanken? Diese Sätze im Kopf  kann man die laut und leise stellen wie bei der Tonie-Box? Bin ich das, was ich da denke? Oder bin ich mehr? Stimmt das alles, was ich da denke? Kann ich die Gedanken ausschalten – geht das: an nichts denken? Hierzu bieten sich kleine Experimente an z.B. »Wir stoppen die Uhr auf eine Minute und du sollst in dieser Zeit an rein gar nichts denken!« oder »Du sollst jetzt mal eine Minute nicht an dein Lieblingsessen denken, wie es riecht und schmeckt.« Kommen Sie mit den Kindern ins Gespräch über ihre Erfahrungen und bieten sie ihnen die Gelegenheit, selbst zu verstehen.
  • Den Körper und den Atem erforschen. Auch der Atem kann erforscht werden: »Ist er immer da? Wann spürst du ihn wo? Fühlst du ihn im Bauch, an der Nase, in der Brust? Wo bewegt der Atem deinen Körper?« Oder die Körperteile können bei einem altersangemessen gekürzten Body-Check erkundet werden. Vielen Kindern fällt es schwer, still zu sitzen oder zu liegen und einfach zu spüren. Dann können Spiele helfen z.B. mit der Taschenlampe die Körperteile anleuchten, in die gerade hineingespürt werden soll. Oder man verbildlicht die Übungen z.B. durch das Einatmen wie beim Riechen an einer Blume und das Ausatmen wie beim Pusten von Seifenblasen.

Mit Achtsamkeit spielen

Kinder lernen am besten, wenn sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlen, nicht angespannt sind und keine Angst haben. Sie lernen am allerbesten im Spiel und wenn ihnen etwas Freude bereitet. Es gibt zahlreiche Wege, Achtsamkeit spielerisch zu »verpacken« und sie spannend zu machen für die Kleinen:

  • Beispielsweise in Form eines selbstgebauten Fühlpfades (z.B. mit Legosteinen, Watte, zerknülltem Papier), über den man barfuß laufen kann und verschiedene Empfindungen an den Fußsohlen aufmerksam beobachtet.
  • Oder mit einem Hör-Memory mit kleinen blickdichten Behältern, die mit verschiedenem Material gefüllt sind und somit beim Schütteln unterschiedliche Geräusche machen (z.B. Glasperlen, Kieselsteine, Nudeln, Reißzwecken).
  • Spiele, bei denen Gegenstände im Raum an eine andere Stelle geräumt werden, wenn das Kind kurz vor der Tür wartet oder man etwas mit verschlossenen Augen ertasten muss, sind nicht neu,  aber auch sie machen Achtsamkeit erlebbar, wenn man währenddessen ganz absichtsvoll aufmerksam ist und nicht bewertet.

Achtsamkeit darf auch laut und lustig sein

Wir können uns mit den Kindern so schnell drehen, dass uns schwindelig wird und dabei genau hinspüren, wie sich das im Körper anfühlt. Wir können achtsam auf dem Spielplatz schaukeln oder achtsam Lärm machen, klatschen, schreien, prusten und währenddessen auf alles achten, was wir dabei wahrnehmen, z.B. die Wärme auf der Haut, den Druck in der Kehle, die Vibration der Lippen …

Fazit

Bei allen Übungen mit Kindern darf es meiner Meinung nach etwas weniger meditativ zu sich gehen. Kleine Achtsamkeitsübungen können Impulse sein und Neugier für die Achtsamkeitspraxis wecken und spielerisch Erkenntnisse hervorrufen wie »Achsooo, ich muss nicht glauben, was ich denke.«
Ich hoffe bei dieser Auswahl an Achtsamkeitsübungen war etwas dabei, was Sie gerne in der Therapie mit Kindern ausprobieren möchten.

Literatur

Linderkamp, F. & Lüdeke, S. (2019). Metaanalyse zur Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Interventionen bei ADHS im Kindes- und Jugendalter. Kindheit und Entwicklung, 28, 85–95.
Saltzman, A. & Goldin, P. (2008). Mindfulness-based stress reduction for school-age children. In L. A. Greco & S. C. Hayes (Hrsg.), Acceptance and mindfulness treatments for children and adolescents: A practitioner’s guide (S. 139–161). Oakland, CA, US: New Harbinger Publications.
Semple, R. J. & Lee, J. (2014). Achtsamkeitsbasierte Therapie für Kinder mit Angststörungen. Paderborn: Junfermann.

Exklusiver Live-Workshop

Erleben Sie Frau Miriam Prätsch am 18. Oktober 2024 in einem exklusiven Live-Workshop zum Thema »Achtsamkeit für Kinder und Jugendliche« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe.

Die Autorin

Miriam Prätsch, M.Sc., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie arbeitet als Leitende Psychologin am Zentrum für Psychologische Psychotherapie der Universität Heidelberg und zudem als Kinderbuchautorin und Dozentin. Bei der Arbeit mit ihren kleinen Patient:innen entwickelt sie immer wieder neue Ideen für psychologische Kinderbücher und Spiele. Bei Beltz ist von ihr 2024 »Moment Mal - Das Wirbelwindspiel« erschienen.

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