»Und Mama … kommt die nicht mit?« – Wenn Kinder nicht allein zur Therapie wollen

Um mit Kindern erfolgreich therapeutisch arbeiten zu können, braucht es eine gute Beziehung zwischen Kind und Therapeut:in. Manche Kinder sind jedoch aus unterschiedlichsten Gründen am Anfang nicht bereit dazu, allein mit dem/der Therapeut:in zu sprechen, was für die Diagnose erforderlich ist. Zum Glück gibt es verschiedene Techniken, wie man die Ängste des Kindes abbauen und das Vertrauen in den/die Therapeut:in stärken kann.

Fallbeispiel

Die Eltern des siebenjährigen Kai erzählen im Erstgespräch, dass ihr Sohn außerordentlich sensibel sei. Er weine in Situationen, die ihm fremd seien, schnell und sei dann nur durch die Eltern zu beruhigen. Sie machen sich Sorgen, weil er sich so wenig traue, und sie müssten sich ständig um ihn kümmern. Tatsächlich zeigt sich das beschriebene Verhalten auch eine Woche später in den Räumen der Beratungsstelle: Kai lässt sich, wenn die Mutter mitgeht, alle Räume zeigen, weigert sich aber, mit dem Berater in dessen Büro zu gehen, wenn die Mutter nicht mitkommt.

Wieso die Trennung so wichtig ist

Diagnostisch gesehen enthält die kurze Sequenz von Kai natürlich wichtige Informationen, die – je nach Therapieschule unterschiedlich gewichtet – auf bestimmte Problemkonstellationen bzw. Störungsbilder hinweisen. Sicher ist hier an Trennungsangst zu denken, an eine soziale Phobie oder an eine Störung mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters, eventuell auch an eine oppositionelle Problematik. Als Grund für das Verhalten erscheint eine elterliche Überbehütung des Kindes naheliegend.

Weitere Fragen liegen ebenfalls auf der Hand und sind zu überprüfen:

  • Liegt eine unsicher-ambivalente Bindung vor?
  • Warum lassen sich die Eltern verleiten, ihren Sohn so zu behüten?
  • Welche Ängste haben die Eltern?
  • Wie steht es um den Selbstwert des kleinen Kai?
  • Was befürchtet er?
  • Hat er Angst um sich oder um seine Mutter?


Das Problem für den Therapeuten ist allerdings, dass eine fachgerechte Diagnostik unter anderem gerade das erfordert, was Kai nicht zulassen will: Zeit mit ihm alleine verbringen, um sich ein umfassendes Bild zu machen. Ist die Mutter bei den diagnostischen Terminen mit Kai im gleichen Raum anwesend, so ist zu befürchten, dass er sich bei allen schwierigen Fragen in ihre Arme werfen wird und sie – in bester Absicht, es ihm zu erleichtern – für ihn antwortet. Darüber hinaus ist die dargestellte Situation mit noch weiteren Verunsicherungen für die Beraterin oder den Therapeuten verbunden: Wie wirkt es sich auf den Fortgang der Therapie mit Kai aus, wenn er bereits im ersten Kontakt die Erfahrung macht, dass er die Struktur der Kontakte bestimmen kann? Welchen Eindruck hat die Mutter von der Kompetenz des Behandelnden im Umgang mit Kindern, wenn der ihn nicht dazu bewegen kann, mit ihm mitzukommen?

Interventionsmöglichkeiten

Kontaktaufnahme mit Kind und Familie

Bei allen Klienten, die zu Beratung und Therapie kommen, ist die erste Kontaktaufnahme von besonderer Bedeutung.  Wenn aber, wie bei Kai, die Schwierigkeit des Klienten, sich in fremde Situationen zu begeben, schon vorher angekündigt wird, muss diese initiale Situation besonders aufmerksam gestaltet werden. Selbstverständlich geht der Berater freundlich und zugewandt in das Wartezimmer und begibt sich idealerweise zur Begrüßung des Kindes, indem er in die Hocke geht, auf Augenhöhe mit dem Kind. Möglicherweise ist so ein Kind schon bei der Begrüßung scheu und zurückhaltend, mag zum Beispiel die zur Begrüßung hingestreckte Hand nicht annehmen. Während die Eltern nun möglicherweise bereits nervös werden und ihr Kind ermahnen, doch die Hand zu reichen oder Ähnliches, könnte der Berater das kindliche Verhalten wertschätzend umdeuten, etwa indem er sagt: »Das finde ich aber gut, dass du erst mal vorsichtig bist und nicht jedem gleich die Hand gibst. Ich sehe schon, du passt gut auf dich auf.« Wenn man dann die Einrichtung erst einmal zeigt (was sich anbietet, wenn es mehr Therapieräume als einen und das Wartezimmer gibt), spricht man das Kind direkt an: »Komm, ich zeig dir mal, was wir hier alles haben«, wobei die Eltern, die das Kind gebracht haben, mitkommen.

Sollte sich beim Rundgang schon durch weitere Gespräche der Kontakt zum Kind vertieft haben und das Kind sichtbar Zutrauen gefasst haben, so kann es einfach in das Beratungs- bzw. Therapiezimmer hineingebeten werden. Fragt es nach (»Und die Mama?«), so sollte kurz erläutert werden:

»Ach weißt du, eigentlich brauchen wir die Mama jetzt nicht, denn ich möchte jetzt mal hören, was du so zu erzählen hast. Außerdem würde ich gerne mit dir spielen, vielleicht malen wir auch was. Deine Mama wartet so lange da vorne im Wartezimmer, sie ist ganz nah. Ist das okay?«

Sehr interessant zu beobachten ist nun, wie die Mutter (oder die Eltern) reagieren, wenn das Kind Anzeichen macht, tatsächlich mitzugehen. Wenn sich die Situation schon auf diese Weise lösen lässt (und das ist häufig der Fall), sind keine weiteren Maßnahmen erforderlich. Sollte das Kind nun allerdings Angst zeigen und nicht alleine mitkommen wollen, so ist weiteres Drängen und Überzeugen-Wollen nicht hilfreich. In diesem Falle muss anders vorgegangen werden.

Initiale gemeinsame Kontakte

Auch wenn es dem üblichen diagnostischen Vorgehen des Behandelnden nicht entspricht, ist es in einigen Fällen notwendig, zunächst einen Termin mit Eltern (oder Elternteil) und Kind gemeinsam durchzuführen. Wenn hierbei die Ängste des Kindes abgebaut werden sollen, empfiehlt sich gemeinsames Spielen mehr als ein gemeinsames Gespräch. In einem Familiengespräch ist es für das Kind viel naheliegender, das gewohnte Verhalten zu zeigen, nicht in das Gespräch einzusteigen und daher auch keinen engeren Kontakt zur Therapeutin aufzubauen. Es besteht eher die Gefahr, dass die Distanz zur Therapeutin vom Kind aktiv aufrechterhalten wird, indem es z. B. auf Fragen nicht antwortet, sondern sich hilfesuchend an die Mutter oder den Vater wendet. Ebenso ist es vorstellbar, dass das Kind dadurch ein bestimmtes Rollenverhalten im Kontakt mit dem Therapeuten geradezu einübt, welches dann später umso schwerer wieder zu verändern ist. Beim gemeinsamen Spiel hingegen (z. B. ein Brettspiel wie »Mensch-ärgere-dich-nicht«) kommt es viel schneller und nahezu unweigerlich zu gemeinsamen Interaktionen. Die Therapeutin lobt im Spiel das Kind für möglichst viele Verhaltensweisen und vermittelt ihm damit Wertschätzung.

Im Anschluss an das Spiel ist dann ein neuer Versuch möglich (falls die bisherigen Verhaltensbeobachtungen nahelegen, dass das Kind nun schon »wärmer geworden« ist): »Das war super! So – jetzt würde ich deine Eltern gerne bitten, einmal kurz rauszugehen, damit wir beide ein paar Minuten nur für uns haben.« Auf diese Weise konnte auch mit Kai das Verbleiben im Therapiezimmer erreicht werden. Er war »angekommen« und fühlte sich nach dem Spiel bei dem Berater wohl, sodass er einverstanden war, dass die Mutter den Raum verließ. Verstärkung für das erwünschte Verhalten.

Eine andere Möglichkeit, das Kind zu bewegen, ohne die Eltern in einem Raum mit dem Berater zu bleiben, besteht darin, eine besondere Verstärkung anzukündigen, die Eltern nicht sehen dürfen/sollen. Während der gemeinsamen Zeit mit Eltern und Kind wird dabei wie beiläufig eine entsprechende Andeutung gemacht, z. B.: »Übrigens, siehst du hinten auf dem Tisch das Buch liegen? Ja? Das ist ein Buch mit Kinderwitzen – für Eltern nicht geeignet. Manchmal, wenn ich Kinder ohne ihre Eltern hier sitzen habe, gucken wir uns das an. Das ist furchtbar witzig.« Wenn hierdurch die Neugierde des Kindes geweckt wurde, kann zu dem Zeitpunkt, an dem das gemeinsame Spiel mit den Eltern beendet ist, entweder (wie oben schon beschrieben) nachgefragt oder im Sinne einer paradoxen Intervention zum Beispiel gesagt werden: »So…was machen wir jetzt? Tja, wir könnten jetzt (zu dem Kind gewandt) deine Eltern mal bitten, dass sie uns ein bisschen alleine lassen. Aber (zu den Eltern gewandt) ich glaube, das ist noch nichts für ihn, oder? Ich weiß gar nicht, ob er hier schon alleine bleiben kann.«

Die Eltern reagieren dann häufig unsicher und fragen ihr Kind, welches dann – an seiner Ehre »gepackt« und neugierig auf die angekündigte Verstärkung – auf einmal doch alleine bleiben möchte. Die angekündigte Verstärkung (Buch, Spiel, witziges Video auf youtube …) sollte dann allerdings auch so sein, dass (fast) jedes Kind Spaß daran hat.

Vereinbarungen mit den Eltern im Vorfeld Wenn das Problem schon im Vorfeld von den Eltern angesprochen wird (Kind will häufig nicht allein ohne die Eltern irgendwo sein), so kann es auch sinnvoll sein, die Eltern nach Ausnahmen von diesem Verhalten zu fragen:

  • Wo geht das Kind gerne hin und bleibt dort ohne die Eltern?
  • Klappt das auch gelegentlich beim ersten Kontakt?
  • Wie ist dann genau die Situation?
  • Wie verhalten sich die Eltern, und wie verhalten sich die anderen?


Sollte sich hier ein klares Muster erkennen lassen, das auch auf die Situation in der Praxis oder Beratungsstelle übertragbar ist, so kann der Erstkontakt mit dem Kind auch auf diese spezielle Weise eingeleitet werden (z. B.: Das Kind wird nur an der Tür abgegeben und die Eltern kommen nicht mit ins Wartezimmer).

Beziehungsaufbau als Kernaufgabe zu Beginn der Beratung/Therapie

Eine gelingende Beratung oder Therapie setzt voraus, dass als erstes der Aufbau der therapeutischen Beziehung im Mittelpunkt steht, denn sie ist die unabdingbare Grundlage für alle weiteren Phasen des therapeutischen Prozesses (Motivationsaufbau, Diagnostik, Zielklärung, Interventionsdurchführung). Auch wenn es diagnostisch außerordentlich wünschenswert, ja für eine belastbare Diagnose möglicherweise sogar unumgänglich ist, auch alleine Kontakt mit dem Kind zu haben (da es sich dann anders äußert und anders verhält als im Beisein der Eltern), ändert es nichts daran, dass die gesamte Behandlung bei einer schlechten Beziehung nicht fruchten wird. Insofern muss das Tempo des Kindes berücksichtigt werden, und Druck auszuüben wird langfristig äußerst schädlich sein. Es kommt also darauf an, sich zu dem Kind in Beziehung zu setzen und die aufgeführten Strategien in diesen Beziehungsaufbau zu integrieren. Wenn das betroffene Kind überredet oder gezwungen wurde, dann aber alleine mit dem Berater ängstlich ist und weint, ist gar nichts gewonnen. Sollte es trotz behutsamen Vorgehens dazu kommen, dass der Klient sich doch zu früh darauf eingelassen hat, mit der Beraterin allein zu bleiben, und dann etwa zu weinen beginnt oder deutliche Angst hat, so sollte die Beraterin sofort nachfragen, ob die Eltern ins Beratungszimmer geholt werden sollen. Wenn das Kind dies bejaht, muss diesem Wunsch unbedingt Folge geleistet werden. Dies mag in Anbetracht der vorliegenden Störung kontraindiziert sein (z. B., wenn durch das elterliche Trösten die Problematik im lerntheoretischen Sinne aufrechterhalten wird), aber dieser Aspekt (Intervention) ist zu Beginn des Kontaktes noch völlig nachgeordnet.

Dos und Dont’s

Dos:

  • Den ersten Kontakt für das Kind möglichst angstfrei gestalten (ruhiges Auftreten, Begrüßung auf Augenhöhe, Zeigen der Räumlichkeiten, Umdeuten von ängstlichen Verhaltensweisen als klug-vorsichtiges Verhalten usw.)
  • Behutsam eine gelingende Beziehung zum Kind aufbauen; durch Wertschätzung und Zuwendung »beweisen«, dass es keine Angst haben muss
  • Das Kind »locken«: Warum ist es besonders attraktiv, mit Ihnen allein zu sein? Gibt es etwas besonders Schönes, bei dem Eltern nur stören?
  • Kontakt und Beziehung zum Kind notfalls im Beisein der Eltern oder eines Elternteils aufbauen, am besten durch gemeinsames Spiel, bei dem Sie sich dem Kind gegenüber freundlich und wertschätzend zeigen
  • Ausnahmen herausfinden: Unter welchen Bedingungen lässt sich das Kind – auch ohne die Eltern – auf Kontakte ein? Stellen Sie, sofern das im professionellen Rahmen möglich ist, eine solche Situation her, die auch in der Vergangenheit bei dem Kind erfolgreich war

Dont’s:

  • Kein Druck, kein »Überrumpeln«, kein Überreden; nicht: »Zeigen, wo es lang
  • geht«
  • Locken ja – Drängen nein! Fragen Sie nicht ständig nach, ob es denn jetzt (endlich) geht; gelassen bleiben


Leseprobe aus: Borg-Laufs •Gahleitner •Hungerige (2018): Schwierige Situationen in Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz

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