Vom Weg- zum Hinschauen: Wenn Eltern im Rahmen der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bagatellisieren

Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern bewegen sich auf einem breiten Spektrum und reichen von Trotz bis hin zu aggressivem Verhalten. Auch wenn Eltern dies wahrnehmen, kommt es oft zu Bagatellisierungen und Verharmlosungen – und die Probleme werden nicht ernst- beziehungsweise angenommen. Die Gründe dafür können vielfältig sein, das Resultat oft dasselbe: Eine therapeutische Intervention wird vertagt oder gar verhindert. Oft fühlen sich die betroffenen Familien »in die Therapie geschickt« und suchen dann doch die psychotherapeutische Praxis auf – da bedarf es dann oft erst einer differenzierten Auseinandersetzung mit den Eltern. 

Ein Fallbeispiel

Frau B. ist […] Mutter eines Elfjährigen. Die Familie wurde von der Schulleitung gebeten, professionelle Beratung einzuholen, weil Olrik in der Schule ein Mädchen gewürgt habe. Frau B. berichtet: »Die Eltern des Mädchens haben nun der Klassenlehrerin erzählt, man habe den Abdruck von Olriks Fingern noch am Nachmittag auf ihrem Hals gesehen! Aber andere Kinder sind doch genauso! Die übertreiben doch alle maßlos!« Wirklich problematisch sei dagegen, dass die Englischlehrerin wegen Krankheit so oft fehlen würde. Außerdem würde sich Olrik von zwei anderen Jungen in der Klasse immer in »so dumme Sachen« hineinziehen lassen, auch dagegen hätte die Schule bisher nichts unternommen. In der CBCL [Elternfragebogen für die Diagnose] kreuzt Frau B. fast jedes Item mit »0« an, keine der Problemskalen weist auf eine klinische Auffälligkeit hin.

Frau B. […] scheint die Probleme in der Schule eher zu bagatellisieren und zu verharmlosen, sie macht »Nebenschauplätze« auf (die oft erkrankende Englischlehrerin) und fühlt sich und ihren Sohn zu Unrecht beschuldigt. Bagatellisieren und Dramatisieren sind die beiden Pole aus dem Spektrum möglicher Mitteilungsformen, in denen nicht so sehr der Sachinhalt im Vordergrund steht, sondern eher eine bestimmte Darstellungsabsicht, eine Intention, ein Signal oder ein Appell.

Sowohl Eltern als auch Kinder und Jugendliche neigen in Therapie- und Beratungssituationen manchmal dazu, die Problemsituation deutlich zu bagatellisieren. Die Ursachen dafür können vielfältig sein, fast immer ist Bagatellisieren aber meidungsmotiviert.

Eltern ist manchmal das Signal wichtig: »Mein Kind ist nicht so schlimm/so gestört/so krank!«, »Mein Kind ist so normal wie jedes andere auch!«, »Mein Kind wird verkannt!« Hier steht die Angst im Vordergrund, das Kind könnte pathologisiert oder stigmatisiert werden, erleide Nachteile in Kindergarten oder Schule o. Ä. Eine andere Motivation kann aus einer fehlenden oder unzureichenden Anstrengungs- und Veränderungsbereitschaft resultieren. Das Signal ist somit eigentlich: »Damit will ich mich jetzt nicht auseinandersetzen!« Therapierelevante Themen können auch tabubesetzt sein oder als zu selbstwertbedrohend erlebt werden (»Wenn ich einräume, dass mein Kind ein Problem hat, habe ich als Elternteil versagt!«). In einigen Fällen kann es auch vorkommen, dass Eltern die Problematik ihres Kindes tatsächlich »nicht sehen« oder falsch einordnen: So kann das auffällige Essverhalten einer Jugendlichen fälschlicherweise als »pubertäre Krise« und nicht als beginnende Anorexie eingeschätzt werden. Und die Eltern eines Zwölfjährigen, der im Zuge einer Zwangsstörung jeden Morgen beim Frühstück einem seiner Elternteile »Ich will jetzt Sex mit dir!« oder »Ich wünschte, du wärst tot!« sagen musste, äußerten im Abschlussgespräch: »Wir dachten, das wäre die beginnende Pubertät. Außerdem waren wir ja froh, dass unser Sohn so ehrlich zu uns war.« Kinder und Jugendliche bagatellisieren häufiger aus anderen Gründen. Zum einen machen Kinder früher oder später die beeindruckende Erfahrung: »Abstreiten, leugnen, kleinreden funktioniert!« Zum anderen fühlen sie sich oft in die Beratung oder Therapie »geschickt«: »Ich habe kein Problem mit dem unaufgeräumten Zimmer/den schlechten Noten/dem Kiffen …«.

So erkennen Sie Bagatellisierungen

So unterschiedlich die Funktionen des Bagatellisierens auch sein mögen, drei Merkmale sind meistens festzustellen:

  1. So sehr auch verharmlost und relativiert wird, fast immer gibt es mindestens einen oder zwei »Aufhänger« (ein gewürgtes Mädchen, wie im Eingangsbeispiel, zwei Gramm »Silver Haze«, die dem Jugendlichen auf dem Schulhof abgenommen wurden o. Ä.), die als Therapie- oder Beratungsanlass fungieren, sonst hätte die Familie ja gar nicht erst den Kontakt zu einer professionellen Helfereinrichtung gesucht.
  2. Fast immer gibt es deutliche Diskrepanzen hinsichtlich der von unterschiedlichen Beobachtern geäußerten Informationen über das Kind oder den Jugendlichen. Mögen die Angaben von Olriks Mutter in der CBCL noch eine »Null-Linie« erzeugen – die Angaben der Lehrerinnen, des Vaters und möglicherweise auch die von Olrik selbst können da schon ein ganz anderes Bild zeigen.
  3. Fast immer werden im Zusammenhang mit verharmlosenden Darstellungen sogenannte »Nebenschauplätze« aufgemacht. Meistens sind das Probleme, die vermeintlich »viel schlimmer« sind (etwa die oft erkrankende Englischlehrerin) oder problematische Verhaltensweisen anderer, die als ursächlich angesehen werden, die aber nicht beeinflussbar sind (z. B. die Jungen, die Olrik immer »in so dumme Sachen« hineinziehen).

Therapeutische Strategien im Umgang mit Bagatellisierungen

Informieren und aufklären

Sofern Ängste oder Informationsdefizite als die Hauptursache für die verharmlosende Darstellung zu vermuten sind, ist Information und Aufklärung erste Pflicht. Da sich die Ängste auf unterschiedliche Aspekte beziehen können (Pathologisierung des Kindes, Versagen als Elternteil usw.), sind diese zunächst behutsam zu erfragen. Hier einige Beispiele für ein empathisches Vorgehen:

  • »Korrigieren Sie mich bitte, wenn ich falsch liege, aber ich habe den Eindruck, ich habe Sie vorhin mit dem Ausdruck ›psychische Auffälligkeit‹ etwas erschreckt. Liege ich mit meinem Eindruck falsch?«
  • »Ich hatte den Eindruck, Sie haben den Begriff ›Verhaltensstörung‹, den die Lehrerin in Bezug auf ihren Sohn gebraucht hat, vorhin mit einiger Bitterkeit in der Stimme wiederholt. Liege ich da richtig?« […]

Je nachdem, wie Eltern auf diese Fragen reagieren, ergeben sich daraus oft Anknüpfungspunkte, um Begriffe wie »Krankheit«, »Verhaltensstörung« oder »psychische Auffälligkeit« genauer zu besprechen oder weitere Hinweise zum Störungsbild (z. B. bei ADHS, Tics, Zwängen) oder zum therapeutischen Vorgehen zu geben. […]

Immer wieder konkretisieren

Bagatellisierende Darstellungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie verharmlosen, beschwichtigen, relativieren, ungenau und vage bleiben, schnell das Thema wechseln usw. Umso wichtiger ist es, im Gespräch vage und relativierende Aussagen durch zugewandtes, aber beharrliches Nachfragen zu konkretisieren. […]

  • »Worum ging es eigentlich genau?«
  • »Was war eigentlich das Problem?«
  • »Und was wollen die jetzt von mir?«

 »Nicht arbeiten, arbeiten lassen«

Ein therapeutischer Auftrag, der stets verneint wird oder kaum erkennbar ist, löst nicht selten Unsicherheit und Ratlosigkeit bei professionellen Helfern aus. Bagatellisierende Eltern vermitteln Therapeutinnen und Beratern daher oft das Gefühl, nun ihrerseits besonders aktiv werden zu müssen. Auch ist die Gefahr groß, unprofessionelle Aufträge anzunehmen, wie z. B. mit Olriks Lehrerin zu sprechen, um ihr klarzumachen, wie das Kind »wirklich« ist. Hier ist es notwendig, sich an eine therapeutische Maxime zu erinnern, die in vielen schwierigen Situationen hilfreich sein kann: Nicht arbeiten, arbeiten lassen! Machen Sie sich bewusst, dass nicht Sie um Rat oder Hilfe gebeten haben. Die Familie kam zu Ihnen. Also lehnen Sie sich zurück.

Dos und Don’ts

Dos

  • Zur Diagnostik auf verschiedene Informationsquellen in unterschiedlichen Kontexten zurückgreifen (Stichwort: Multimodale Diagnostik)
  • Ängste und Informationsdefizite durch sachgerechte Aufklärung reduzieren
  • In der aktuellen Gesprächssituation: Probleme immer wieder durch gezieltes Nachfragen konkretisieren – Frühzeitig die Aufgaben der verschiedenen Rollen in der Therapie deutlich machen (Stichwort: Rollenstrukturierung)
  • Langfristig im weiteren Therapieverlauf: »Nicht arbeiten, arbeiten lassen«
  • Bei Dramatisierungstendenzen: Sich komplementär auf der Beziehungsebene verhalten
  • Frühzeitig Selbstwirksamkeitserfahrungen fördern
  • Verstärkt lösungs-, ressourcen-, handlungs- und zielorientiert fragen
  • Sich auf prototypische Problemsituationen beschränken und verstärkt strukturierend in den Gesprächsverlauf eingreifen

Don’ts

  • Bagatellisierungen und Dramatisierungen einfach glauben (auch nicht in Fragebögen!) oder (langfristig) geschehen lassen
  • Die zugrunde liegenden Motive ignorieren oder nicht ernst nehmen
  • Sich unter Druck setzen lassen, vorschnell oder unangebracht agieren, die Verantwortung für schnelle Lösungen übernehmen

 

Leseprobe aus: Borg-Laufs •Gahleitner •Hungerige (2018): Schwierige Situationen in Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz

 

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