Wenn Patient:innen um Kontrolle ringen – Zum Umgang mit Machtkampf in der Psychotherapie

Im Rahmen der psychotherapeutischen Tätigkeit kann es etliche Situationen geben, die den/die Therapeut:in herausfordern, unter Druck setzen, an persönliche Grenzen bringen. Oft hilft eine Kontextuierung – aber auch dann kann das Verhalten der Patient:innen und die Dynamiken der Sitzungen zur Belastung werden. Besonders wenn Patient:innen die/den Therapeut:in in Frage stellen, um die Kontrolle innerhalb der Behandlung ringen und es zum Machtkampf kommt. Besonders problematisch wird es, wenn eine solche Auseinandersetzung in einer Gruppe stattfindet.

Ein Fallbeispiel

In der Gesprächsgruppe herrscht eine knisternde Stimmung, Daniela F. steht wie bereits bei den beiden vorigen Terminen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wird von den restlichen sieben Mitgliedern gespannt beäugt. Denn gerade eben hat sie Sie, die Gruppenleiterin, zum wiederholten Male unterbrochen. »Ich glaube nicht, dass das, was Sie da gerade sagen, so gut auf unsere Astrid hier zutrifft. Was sie meiner Meinung nach jetzt unbedingt tun sollte, ist, sich mit ihren Eltern mal richtig auseinandersetzen.« Astrid, eine Gruppenteilnehmerin, blickt zwischen Daniela F. und Ihnen hin und her und sagt nichts. Alle warten darauf, wie es nun weitergeht, und Sie fragen sich, wie Sie Ihre Position als Gruppenleiterin behaupten können.

Zum Hintergrund

Menschen unterscheiden sich sehr stark darin, wie wichtig ihnen Kontrolle in verschiedenen Bereichen ist. Teilweise kann dies durch psychische Störungen noch weiter ins Extrem verlagert werden: So wünscht sich eine Person mit einer abhängigen Persönlichkeitsakzentuierung tendenziell eher, Verantwortung und damit auch Kontrolle abgeben zu können, während Personen mit vorsichtigem bzw. misstrauischem Persönlichkeitsstil sehr darauf bedacht sind, gerade zwischenmenschliche Interaktionen deutlich unter Kontrolle zu halten. Solche Muster können sich somit auch mehr oder weniger deutlich in beraterischer oder therapeutischer Arbeit niederschlagen. Immer dann, wenn Klient:innen äußerst stark entwickelte Kontrollbedürfnisse haben, besteht die prinzipielle Gefahr, dass Beratung und Therapie in Machtkämpfe ausarten. Im Idealfall ist eine Behandlung das gemeinsame Arbeiten an gemeinsamen Zielen. Dann ziehen beide – Behandler:in wie Klient:in – am selben Strang, und die Atmosphäre in der Behandlung wird im Wesentlichen entspannt sein. Manchmal jedoch haben Behandler:innen den Eindruck, dass sich zwischen ihnen und ihren Klient:innen ein regelrechter Machtkampf entwickelt. Das zeigt sich dann zum Beispiel darin, dass Klient:innen »trotzig« nicht das machen, was situationsangemessen wäre bzw. sie sichtbar um Kontrolle in der Behandlung kämpfen.

Mögliche Interventionen für das Einzel- und Gruppensetting

In vielen Fällen wird hinter einem solchen Machtkampf nichts anderes stecken als ein Motivationsproblem in dem Sinne, dass der/die Klient:in den Eindruck hat, dass es in der Behandlung nicht um ihre Ziele geht, sondern um die des/der Behandler:in. Deshalb sollte ein erster Schritt bei Machtkämpfen auf jeden Fall darin bestehen, eine Motivations- und Zielklärung anzustreben, damit der/die Behandler:in sich ggf. neu einstellen kann. Die meisten Klient:innen werden sich wieder kooperativ verhalten, wenn deutlich ist, dass ihre Ziele und Wünsche in der Behandlung wirklich ernst genommen werden.

Ein anderes Problem kann darin bestehen, dass es aus Sicht der Klient:innen zwar um die richtigen Ziele geht, sie sich aber durch die Art des Behandlers »dominiert« fühlen – sie deshalb, wie oben schon angedeutet, den Eindruck haben, das Geschehen in der Behandlung gar nicht kontrollieren zu können. Zu große Direktivität seitens des/der Behandler:in kann beispielsweise zu einer solchen Dynamik führen – eine Gefahr, die insbesondere bei verhaltenstherapeutischen Ansätzen besteht, da diese tendenziell eher direktiv ausgerichtet sind. Deshalb sollte ein:e Behandler:in bei deutlichen Machtkämpfen mit Klient:innen überprüfen, wie ihre/seine Haltung dem/der Klient:in gegenüber ist, und hierbei eben insbesondere die Beziehungsgestaltung untersuchen: Bin ich in der Beziehungsgestaltung hinreichend »klientenzentriert«? Unterbreche ich meine:n Klient:in oft? Empfinde ich häufig Ungeduld mit dem, was die/der Klient:in sagt und führe sie dann mit sanftem Druck »endlich wieder zum Thema zurück«? Ist das von mir am häufigsten verwendete Wort in der Behandlung das Wort »aber«? Wenn Sie einige dieser Fragen nach einer Reflexion des Behandlungsprozesses – am besten unter Zuhilfenahme von Videoaufnahmen der Stunden, idealerweise gemeinsam mit Kolleg:innen betrachtet – bejahen können, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Ursache des Machtkampfes in einem zu direktiven Behandler:innenstil besteht. Sollte dies der Fall sein, bietet es sich an – ggf. mit kollegialer Unterstützung – den eigenen Stil entsprechend zu modifizieren (Experimentieren mit nondirektiverem Vorgehen, Aufmerksamkeit auf das Vokabular legen etc.).

Am schwierigsten ist der Umgang mit »Machtkämpfen« dann, wenn diese sich aus der »Störung« der Klientin/des Klienten ergeben – beispielsweise Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitszügen, die in der Gruppenbehandlung zeigen möchten, dass sie dem/der Behandler:in im Grunde überlegen sind. (…) Komplementäre Beziehungsgestaltung ist ein möglicher Ausweg aus diesem Teufelskreis, da sie darin besteht, nicht auf das offen gezeigte Verhalten des/der Klient:in zu reagieren, sondern auf das dahinter zu vermutende zugrundeliegende Motiv. Wieder am Beispiel: Gelingt es der Interaktionspartnerin, der Person mit den narzisstischen Tendenzen trotz des eigentlich inadäquaten Verhaltens Anerkennung zu zollen, so fällt die Notwendigkeit zu weiterem großspurigem Verhalten weg, denn sie hat ihre Anerkennung ja bekommen. In dem sich dann entwickelnden Klima, welches durch eine sich verbessernde Beziehung gekennzeichnet sein wird, ist dann auch Raum für die übergeordnete Arbeit an den Persönlichkeitsstilen. Im Rahmen von Machtkämpfen bedeutet das, dass zuerst eruiert werden sollte, welches zugrundeliegende Motiv sich in dem Verhalten der Klientin ausdrückt.

[…] In der Gruppe [ist es günstiger] mit einem solchen Mitglied komplementär zu arbeiten. In diesem Sinne sollte beispielsweise der/die nach Anerkennung dürstende »Co-Therapeut:in« diese bekommen (»Ich finde es klasse, dass Sie so viele Ideen hier einbringen.«), dann aber durch weitere Interventionen in ihrer Rolle den restlichen Mitgliedern wieder behutsam gleichgesetzt werden (an die anderen Gruppenmitglieder gerichtet: »Wer hat noch Ideen, die wir hier sammeln können? « – und wenn die »Machtkämpferin« sich gleich wieder zu Wort meldet, wird sie behutsam unterbrochen und in ihrer Rolle noch einmal definiert: »Moment, warten Sie bitte kurz, ich möchte, dass sich hier alle Gruppenmitglieder beteiligen können.«). Bei sehr zähen Entwicklungsverläufen kann es auch in der Gruppe wichtig werden, das Thema direkter anzusprechen. Wir halten es in diesen Fällen für günstig, erst einmal einen explorativen Kurs einzuschlagen (»Wie sehen Sie Ihre Position innerhalb der Gruppe? Was glauben Sie, wie die anderen Sie sehen?«) und nicht zu konfrontativ zu werden. Gegebenenfalls muss ein:e Klient:in auch gegen hartes Gruppenfeedback in Schutz genommen werden. […] Wir vertreten an dieser Stelle nicht die Position, dass man die Gruppe ihrer eigenen Dynamik überlassen sollte, sondern stattdessen sollte auch Feedback reguliert und dosiert werden: »Moment, ich möchte mal kurz unterbrechen. Aus meiner Sicht haben sich jetzt drei Teilnehmer:innen sehr ähnlich und teilweise auch ziemlich heftig über Frau F. geäußert. Frau F., wie geht es Ihnen damit, und möchten Sie auf dieses Feedback reagieren?« Sinnvollerweise geschieht dies auf Basis von vorab klar definierten Gruppen- und Feedbackregeln.

Dos und Don’ts

Dos
• Komplementäre Beziehungsgestaltung
• Beziehung klären
• So weit wie irgend möglich dem/der Klient:in die Kontrolle über alles überlassen (»Sie sind hier die Chefin, Sie bestimmen, was gemacht wird.«)
• Gruppen- und Feedbackregeln zu einem frühen Zeitpunkt einführen und Mitglieder darauf verpflichten

Don’ts
• Auf den Machtkampf einsteigen (»Dir zeig ich schon, wer hier der Stärkere ist!«)
• Beleidigt reagieren (»Jetzt will ich dir schon helfen, und du hast nichts Besseres zu tun, als mich abzuwehren …«)
• Klient:innen in der Gruppe vorführen (»Es hat den Anschein, dass Frau F. meint, der einzig gesunde Mensch in dieser Gruppe zu sein. Wie sehen das denn die anderen?«)

Leseprobe aus: Noyon ∙ Heidenreich (2020). Schwierige Situationen in Therapie und Beratung - 34 Probleme und Lösungsvorschläge. Weinheim: Beltz

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