Das tut doch jeder mal…? Ekel als verborgener Antrieb für Lästern

Kennen Sie das auch? Man sitzt im Kreis der Kolleg:innen zusammen und ehe man sich versieht, tauscht man sich nicht mehr über die schönen Erlebnisse des Wochenendes aus, sondern klagt darüber, wie fürchterlich sich Frau X wieder in der letzten Gruppenstunde verhalten hat oder wie sehr einem die Einzelstunden mit Herrn Y einem den letzten Nerv rauben. Kurzum: Es wird gelästert. Dabei passt diese Angewohnheit für viele Therapeut:innen weder zum Selbstbild noch zu den eigenen Werten. Denn Wertschätzung und Respekt werden in therapeutischen Berufen großgeschrieben. Wie kommt es also zu diesem vermeintlichen Laster? Bei der Suche nach einer Antwort kann die Emotion Ekel helfen, die die meisten Menschen wohl eher mit üblen Gerüchen als mit Lästern in Verbindung bringen. Aber die Emotion Ekel taucht grundsätzlich immer dann auf, wenn uns etwas »Schädliches« viel zu nahekommt. Denn Ekel warnt uns. Dies gilt für verdorbene Lebensmittel ebenso, wie für Beziehungen, die uns nicht mehr guttun. Aber ist das Lästern im Verborgenen wirklich so problematisch? Ist es nicht einfach Teil der normalen Psychohygiene, so wie eine Art »Dampf ablassen«, damit es danach wieder entspannter weitergehen kann?

Warum Lästern ein ernstzunehmendes Risiko darstellt

Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, den Zusammenhang von Ekel und Lästern etwas genauer zu betrachten. Denn Lästern kann als eine Verhaltensweise angesehen werden, die durch ekelgetriebene Verachtung begünstigt wird. Und diese Form der Verachtung tritt gerne dann in Beziehungen auf, in denen es keinen anderen Ausweg zu geben scheint, um sich von der besagten Person zu distanzieren. Denn ein sofortiges Meiden ist im therapeutischen Setting ebenso wenig umsetzbar, wie die Drohung, die Beziehung zu beenden, wenn das »nervende Verhalten« nicht sofort unterlassen wird. Ersteres wäre die Reaktion, wenn wir dem Ekel folgen, zu zweiterem würde uns die Wut motivieren. Und hier kommt der vermeintlich positive Aspekt der Verachtung ins Spiel. Denn wer verachtet, fühlt sich überlegen. Und diese Überlegenheit schafft über einen »Höhenunterschied« eine gewisse Distanz und ermöglicht es, die Beziehung trotzdem aufrechtzuerhalten. Allerdings für einen hohen Preis, denn wer verachtet, glaubt nicht mehr daran, dass das Gegenüber noch etwas verändern wird. Sie ahnen, welch verheerende Wirkung diese verächtliche Grundhaltung für die Interaktionsgestaltung hat: Über die Zeit gehen Respekt, Mitgefühl, Geduld und der Glauben an die Veränderungsfähigkeit unseres Gegenübers verloren. Alles Eigenschaften, die für eine wertschätzende Arbeit mit psychisch kranken Menschen dringend gebraucht werden. Übersehen wir also den Ekel und erlauben wir der Verachtung diesen zu überdecken, wird dies die Interaktion früher oder später schädigen. Und Lästern ist ein ernstzunehmendes Warnzeichen auf dem Weg zu dieser Entwicklung.

Lästern als Chance zur aktiven Reflexion nutzen

Wer als psychotherapeutisch Tätiger bemerkt, dass er gerade lästert, obwohl er das an sich ablehnt, hat bereits einen der wichtigsten Schritte im Umgang mit beginnender ekelgetriebener Verachtung geschafft. Denn nun, da seine/ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, kann ein Reflexionsprozess – allein oder im Intervisions- bzw. Supervisionskontext – beginnen. Und hier geht es nicht einfach nur darum, sich schamerfüllt das Lästern einzugestehen und sich in Zukunft mehr »zusammenzureißen«. Vielmehr geht es darum, achtsam zu überprüfen, ob Ekel als Schutzemotion gerade aktiv ist. Ist dies der Fall, lohnt es sich, die Nähe-Distanz-Regulation mit dem/der ekelauslösenden Patient:in genauer unter die Lupe zu nehmen. Was erzeugt denn dieses Zuviel an Nähe und das Gefühl, nichts daran ändern zu können? Die Frequenz der Stunden, die Intensität der Beziehung, die Bedürftigkeit des/der Patient:in, eigene biografische Themen oder eine generelle Ermüdung durch Überarbeitung? Die Gründe sind hier so individuell wie die Therapeut:innen selbst. Aber es lohnt sich, hier zu investieren, um diesen wertvollen Beruf lange gesund und mit Freude ausüben zu können.

Exklusiver Live-Workshop

Erleben Sie Dr. Christina Lohr-Berger am 09. Oktober 2024 in einem exklusiven Live-Workshop zum Thema »Ekel: Therapeutische Arbeit mit einem wertvollen Gefühl« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe.

Die Autorin

Dr. Christina Lohr-Berger ist Diplom-Psychologin, approbierte Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis und Business Coach. Daneben ist sie in den Bereichen Emotionale Aktivierungstherapie (EAT), Strategisch Behaviorale Therapie (SBT), Emotionen, Embodiment und Sexualität als Dozentin und Autorin tätig. Bei Beltz hat sie zusammen mit Gernot Hauke die Fachbücher »Ekel« und »Stolz« in der Reihe »Emotionsarbeit in der Psychotherapie« veröffentlicht.

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