Eine verbesserte Selbstfürsorge ist in vielen Verhaltenstherapien ein wichtiges Ziel und mittlerweile können wir Therapeut:innen aus einer Vielzahl von Techniken, Methoden und Ansätzen wählen und hoffen, unsere Patient:innen dabei unterstützen zu können, das für sie Passende zu entdecken. Oft ist das jedoch einfacher in der Therapiestunde zu besprechen als von den Patient:innen im Alltag nachhaltig umzusetzen. Und nach einigen Wochen wirken manche geradezu gestresst davon. Statt sich auf ihr abendliches Selbstfürsorgeprogramm zu freuen, wirkt es nur wie ein neues Pflichtenheft, das notfalls mit viel Härte und Disziplin abgearbeitet werden muss, wie die »To-do-Liste« im Beruf. Und vielleicht haben Sie sich sogar selbst schon einmal bei Gedanken erwischt, wie: »Ich muss heute noch ein heißes Bad nehmen oder ich sollte mal wieder in die Sauna nach dem Sport!« Schnell stellt sich die Frage, warum hier nicht mehr Vorfreude aufkommt.
Vom »müssen und sollen« zum »dürfen und wollen«!
Ein Ansatz, dieser Art von »müssen« zu begegnen, ist die Arbeit mit dem Gefühl der Zärtlichkeit. Denn Zärtlichkeit unterscheidet sich hier ganz und gar nicht von den anderen, uns bekannten Gefühlen. Sie motiviert uns, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen, nämlich Fürsorge. Denn genau das ist die Hauptfunktion dieses wunderbaren Gefühls und für ein so soziales Wesen wie den Menschen, unerlässlich im Umgang miteinander und bei der Erziehung unseres Nachwuchses. Zärtlichkeit kann aber noch viel mehr. Denn sie hilft uns, das Schützenswerte und Verletzliche zu sehen und ihm in Sanftheit zu begegnen. Wer schon einmal einen Hundewelpen, ein Katzenbaby oder ein flauschiges Kaninchen auf dem Arm hatte, kennt diesen Effekt. In Windeseile wird die Stimme sanfter und leiser. Wir achten darauf, das Tier vorsichtig zu halten und werden ruhig. Wir spüren, wie unsere Muskeln mit jeder Streichelbewegung über das Fell weicher werden. Spätestens dann erscheint bei den meisten ein Lächeln auf dem Gesicht, der Stress der vergangenen Stunden ebbt ab. Ein rundum angenehmes und wohltuendes Gefühl stellt sich ein. Aber noch nicht genug der Vorteile, denn das Wichtigste kommt jetzt: Wir merken, wie wir es gar nicht erwarten können, dieses wunderbar flauschige Tier wieder in den Armen zu halten und erneut in dieses Gefühl einzutauchen. Denn Zärtlichkeit schafft ein starkes positives Annäherungsverhalten – und genau das ist die emotionale Basis, die auch eine nachhaltige und als »leicht« empfundene Selbstfürsorge im Alltag benötigt.
Aber wie schaffen wir es, Zärtlichkeit für uns selbst zu empfinden?
In der Tat ist hier der Weg für viele Patient:innen nicht leicht zu finden, aber die Reise lohnt sich. Und das Wissen um die Netzwerkstruktur unseres Gehirns kann dabei eine große Hilfe sein. Denn wir erleben mit allen Sinnen und speichern Erinnerungen auch genauso ab. Um also das »Zärtlichkeitsnetzwerk« anzuwerfen, braucht es nur eine zuverlässige Komponente daraus. Eine relativ einfache Möglichkeit ist es, gezielt mit der flauschigen Haptik zu arbeiten: Warme, weiche, glatte, fließende Materialien sind hier besonders hilfreich. Viele Erwachsene scheuen sich aber, aus Angst, als kindlich zu gelten, diese Materialien als Kleidung oder in Form von Decken und Kuscheltieren wieder in ihren Alltag zu integrieren. Hier lohnt es sich, die Hürden abzubauen und schon in der eigenen Praxis verschiedene Materialien zum Ausprobieren bereit zu halten, um die entspannende Wirkung direkt erlebbar zu machen. Und ist das Netzwerk erst einmal aktiv, fällt es leichter, mit den anderen Komponenten wie dem Gefühl und den entsprechenden Handlungsimpulsen in Kontakt zu kommen. So entsteht schnell ein natürlicher Fluss, der von einem zum anderen führt. Nicht selten sind in den Zärtlichkeitsnetzwerken unserer Patient:innen jedoch auch belastende und enttäuschende Erfahrungen abgespeichert, die sich sofort zeigen, sobald das Thema Zärtlichkeit über die körperliche Erfahrung in den Fokus kommt. Hier zeigen sich für die Patient:innen oft überraschende Zusammenhänge in der eigenen Biografie, die sie zuvor gar nicht mit Selbstfürsorge in Verbindung gebracht hätten, und die Blockaden können in der psychotherapeutischen Behandlung endlich gelöst werden. Und dann wird der Weg frei für einen zärtlichen Umgang mit den eigenen verletzlichen Seiten und für eine Stärkung der Selbstwirksamkeit, um sich mit sich selbst immer wieder wohl und entspannt zu fühlen.
Exklusiver Live-Workshop
Erleben Sie Dr. Christina Lohr-Berger am 12. November 2024 in einem exklusiven Live-Workshop zum Thema »Zärtlichkeit: Therapeutische Arbeit mit einem unterschätzten Gefühl« im Rahmen unserer akkreditierten Webinar-Reihe.
Die Autorin
Dr. Christina Lohr-Berger ist Diplom-Psychologin, approbierte Verhaltenstherapeutin in eigener Praxis und Business Coach. Daneben ist sie in den Bereichen Emotionale Aktivierungstherapie (EAT), Strategisch Behaviorale Therapie (SBT), Emotionen, Embodiment und Sexualität als Dozentin und Autorin tätig. Bei Beltz hat sie zusammen mit Gernot Hauke die Fachbücher »Ekel« und »Stolz« in der Reihe »Emotionsarbeit in der Psychotherapie« veröffentlicht.