In den letzten Jahren hat das Bewusstsein für queere Themen in der Gesellschaft stark zugenommen. Der Begriff »queer« umfasst diverse Identitäten und sexuelle Orientierungen, darunter lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, nicht-binäre, intersexuelle sowie asexuelle Menschen (LGBTQIA+). Das Pluszeichen soll als Platzhalter für weitere Geschlechtsidentitäten und/oder assoziierte Menschen und Themen für diese Gruppe stehen, beispielsweise Menschen, die in alternativen (oder: queeren) Familienmodellen leben. Auch in der Psychotherapie spielt dieser Bereich eine wichtige Rolle. Queere Menschen, also Menschen, die sich nicht in das traditionelle Spektrum der heteronormativen oder binären Geschlechtervorstellungen einfügen, begegnen im Alltag oft spezifischen Herausforderungen. Diese können von Minoritätenstress, Diskriminierung und gesellschaftlichem Druck bis hin zu inneren Konflikten aufgrund der eigenen Identität reichen. Die Psychotherapie kann hier einen wertvollen Beitrag leisten, indem sie queere Menschen und dem zugehörigen Umfeld in ihrem Selbstverständnis stärkt und dabei hilft, mit äußeren und inneren Herausforderungen besser umzugehen.
Herausforderung queerer Lebensrealitäten
Queere Menschen sind häufiger mit psychischen Belastungen konfrontiert als cis-heterosexuelle Menschen. Dies hat verschiedene Gründe: Viele erleben Ausgrenzung, Diskriminierung oder sogar körperliche Gewalt. Diese Erfahrungen können zu Ängsten, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsstörungen führen. Hinzu kommen innere Konflikte, die durch gesellschaftliche Normen und Erwartungen entstehen. Nicht selten entwickeln queere Personen Scham- oder Schuldgefühle, weil ihre Identität und/oder sexuelle Orientierung nicht den tradierten Vorstellungen entspricht. Eine der großen Herausforderungen für Psychotherapeut:innen besteht darin, sich von Vorannahmen und Gegenübertragungsphänomenen zu lösen und offen auf die jeweilige Lebenswelt der Patient:innen einzugehen. Die queere Perspektive erfordert eine andere Herangehensweise als die Arbeit mit cis-heterosexuellen Personen. Die Akzeptanz der individuellen Lebensrealität sowie die aus einer adaptiven Bewältigung entstehenden Möglichkeiten (z.B. zwischenmenschliche Stärke, soziale Intelligenz und »Out of the box«-Denken) stärkt das Vertrauen und ermöglicht eine tiefergehende therapeutische Arbeit.
Psychotherapie als Ort der Akzeptanz
Ein zentraler Aspekt der Arbeit mit queeren Menschen in der Psychotherapie ist das Schaffen eines sicheren Raums. Oft erleben queere Menschen in ihrem Alltag Ablehnung oder Diskriminierung. Diese negativen Erfahrungen können auch den Zugang zur Therapie erschweren. Es ist daher von großer Bedeutung, dass sich Psychotherapeut:innen von Anfang an um eine offene, nicht wertende Atmosphäre bemühen. Ein sicherer Raum bedeutet, dass Patient:innen keine Angst haben müssen, aufgrund ihrer Identität oder ihres Lebensstils verurteilt zu werden. Sie sollen sich frei fühlen, ihre Erfahrungen und Gefühle zu teilen. Psychotherapeut:innen können dies auf verschiedene Weisen unterstützen. Bereits die Wahl der Sprache spielt eine große Rolle. Durch den bewussten Umgang mit Begriffen, Pronomen und Identitätsbezeichnungen wird signalisiert, dass die Vielfalt der Geschlechter und sexuellen Orientierungen anerkannt und respektiert wird. Auch das Einfühlungsvermögen der Psychotherapeut:innen ist entscheidend: Viele queere Menschen haben in der Vergangenheit negative Erfahrungen mit medizinischem oder psychologischem Personal gemacht. Deshalb ist es besonders wichtig, ein sensibles und professionelles Vorgehen zu erreichen. Zudem ist es notwendig, sich über die eigenen Vorurteile und blinden Flecken im Klaren zu sein. Der erste Schritt zu einer erfolgreichen Therapie ist oft die Selbstreflexion der Psychotherapeut:innen. Sie müssen sich bewusst darüber werden, welche unbewussten Annahmen sie über Geschlecht, Identität und sexuelle Orientierung haben und wie diese Annahmen ihre Arbeit beeinflussen könnten.
Drei wichtige Aspekte der queeren Arbeit in der Psychotherapie
Am Ende dieser Überlegungen sollen drei zentrale Aspekte hervorgehoben werden, die in der Arbeit mit queeren Menschen in der Psychotherapie von besonderer Bedeutung sind:
- Individuelle Lebensrealitäten anerkennen und eigenes Ambiguitätserleben entwickeln:
Jede queere Person hat eine individuelle Geschichte, die in ihrer Identität und ihren Erfahrungen verankert ist. Psychotherapeut:innen sollten offen und neugierig auf diese Geschichten zugehen und vermeiden, die Lebensrealität ihrer Patient:innen zu pauschalisieren. Es gibt nicht »die eine queere Erfahrung«, und gerade deshalb ist es wichtig, auf diese mit einer hohen Ambiguitätstoleranz (als das Aushalten von Vielheit und Vagheit) zu reagieren
- Sensibilität im Umgang mit Sprache und Begrifflichkeiten:
Die Sprache, die in der Therapie verwendet wird, kann entweder einen Brückenbau oder eine Barriere darstellen. Das bewusste Verwenden der richtigen Pronomen und das Ansprechen der Selbstbezeichnungen, die die Patient:innen wählen, ist essenziell. Missachtungen oder falsche Bezeichnungen können das Vertrauen beeinträchtigen und die therapeutische Beziehung dadurch belasten. Das Wissen über queersensible Modelle (z. B. Minoritätenstressmodell von Meyer, 2003) und die Verwendung von zugehörigen Begriffen (z. B. Geschlecht, Gender, Geschlechtsidentität, Sexuelle Orientierung) stellt dafür eine wichtige Grundlage dar.
- Stärkung der Resilienz:
Ein weiterer zentraler Aspekt der psychotherapeutischen Arbeit mit queeren Menschen ist die Stärkung der Resilienz. Durch die Konfrontation mit Diskriminierung und gesellschaftlicher Ablehnung benötigen viele queere Personen Strategien, um mit diesen Herausforderungen umzugehen. Psychotherapeut:innen können dabei helfen, Ressourcen zu aktivieren, die die psychische Widerstandskraft erhöhen. Dies umfasst sowohl individuelle Strategien zur Selbstfürsorge als auch die Suche nach unterstützenden sozialen Netzwerken.
Queere Themen als Herausforderung und Chance
Die psychotherapeutische Arbeit mit queeren Menschen erfordert Sensibilität, Offenheit und ein tiefes Verständnis für die individuellen Lebensrealitäten der Patient:innen. Psychotherapeut:innen müssen sich aktiv darum bemühen, queere Themen in ihre Arbeit zu integrieren, um einen Ort zu schaffen, in dem sich ihre Patient:innen frei entfalten können. Hilfreich können dabei Interventionen zum Abbau verinnerlichter Queerfeindlichkeit sein (z.B. durch emotionsaktivierende Strategien) sowie die Stärkung von Möglichkeiten, um Wehrhaftigkeit gegenüber fortbestehender Diskriminierungsrealität zu schaffen. Abschließend scheint es wichtig, sich auch inspirieren und berühren zu lassen von den positiven Aspekten von queeren Themen (z.B. Umformulierung von Versorgungsdynamiken in queeren Familien, soziale Intelligenz, große Empathie und Offenheit für die Narrative des Gegenübers).
Literatur
Meyer, I. H. (2003). Prejudice, social stress, and mental health in lesbian, gay, and bisexual populations: Conceptual issues and research evidence. Psychological Bulletin, 129 (5), 674-697.
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Die Autorin
Dr. Lena Barth, Psychologische Psychotherapeutin (Tiefenpsychologie), Dozentin und Supervisorin. Zuletzt fachliche Leitung Tiefenpsychologie im Hafencity Institut für Psychotherapie (HIP), Supervisorin für Psychotherapeut:innen in Weiterbildung (DFT) sowie Psychotherapeutin in eigener Praxis in Hamburg. Bei Beltz erscheint von ihr im Juli 2024 ein Therapie-Tools-Band zum Thema »Psychodynamische Interventionen«.