Verständnis und Bewältigung: Aggression in der Kinder- und Jugendpsychotherapie

Aggressive Problematiken gehören mit zu den am weitesten verbreiteten Phänomenen innerhalb der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie und -beratung (Kazdin, 1997). (…) Die aggressive Problematik ist oft zugleich mit motivationalen Problemlagen der Kinder und Jugendlichen verbunden. Insbesondere diese Kombination macht die Arbeit mit betroffenen Kindern und Jugendlichen zuweilen zu einer sehr herausfordernden Angelegenheit. Spitzen sich die aggressiven Durchbrüche zu, kann es auch zu objektiv gefährlichen Situationen kommen, vor denen die Therapeuten sich selbst, die Klienten und den therapeutischen Raum angemessen schützen müssen. Im Folgenden werden konkrete Maßnahmen angesprochen, die im Umgang mit aggressiven Kindern und Jugendlichen hilfreich sein können.

Ein Fallbeispiel

Tanja lebt seit einigen Wochen in einer stationären Einrichtung. Die Mutter war mit der hoch aggressiven Tochter in den Monaten zuvor massiv überfordert. Tanja ist stark wechselnden emotionalen Zuständen ausgesetzt, während des vorhergehenden Psychiatrie-Aufenthalts wurde eine emotionale Instabilität mit Tendenz zur Entwicklung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Die erste Begegnung zwischen Tanja und der Therapeutin fand in den Räumen der Einrichtung statt. In Vertretung einer längerfristig erkrankten Kollegin sollte dort für einige Mädchen eine therapeutische Begleitung eingerichtet werden. Die dafür vorgesehenen Mädchen wurden nacheinander in den Therapieraum geschickt. Tanja kam als Letzte in das relativ kleine Büro. Bereits mitten im einführenden Satz der Therapeutin, wer sie sei, was sie anbieten und wie man sich untereinander vereinbaren könne, zischte sie sie an: »Ich finde Therapie sowieso bescheuert. Soll ich mich jetzt hier ausziehen, oder was? Ich komme sicher nicht.« Die Therapeutin beendete zunächst ihren Satz, in dem Tanja sie unterbrochen hatte, wies dann darauf hin, dass trotz der dringlichen Empfehlung der Einrichtung zur Therapie natürlich niemand dazu gezwungen werden könne, sich in diesem Rahmen zu öffnen und auf eine Veränderung hinzuarbeiten, und ließ das Treffen zunächst offen – mit einem Hinweis auf ein bestehendes Angebot: »Du kannst ja in Ruhe darüber nachdenken. Ich warte einfach das nächste Mal nach dem letzten Mädchen eine Viertelstunde auf dich. Wenn du dann kommst, arbeite ich gerne mit dir. Wenn nicht, ist das deine Entscheidung, die ich respektieren werde.«

(…)

Aggressivität in Therapie und Beratung: Was tun?

Hilfreich für eine Strukturierung der Situationen in Therapie und Beratung ist die von Noyon und Heidenreich (2013) vorgenommene Differenzierung in mildere Formen von Aggression, vorzugsweise im verbalen Bereich, in mittlere Aggression und starke Aggression, die für die Beraterin oder den Therapeuten gefährliche Ausmaße annimmt. Im Bereich der gefährlichen Ausschreitungen muss zeitnah und souverän entschieden werden, ob an dieser Stelle weitergearbeitet werden kann oder eine Unterbrechung bzw. ein Abbruch unvermeidlich ist. In jedem Falle muss in der Arbeit mit Klientinnen, bei denen ein Risiko in diesem Bereich besteht, für solche Situationen vorgesorgt werden. Neben Vorkehrungen wie der Arbeit zu zweit und klassischen Notrufeinrichtungen gelten hier die üblichen Hinweise zur Selbstverteidigung.

Stärke der Aggression einschätzen. Im schlechtesten Falle eines schweren tätlichen Angriffs durch einen jungen Erwachsenen bedeutet das, körpersprachlich eine aufrechte, selbstbewusste Körperhaltung, souveränen Blickkontakt und einen sicheren Stand, der Bewegungsfreiheit gewährleistet, zu suchen. Eine gesteigerte Aufmerksamkeit für Gefahrensignale ist nötig, um sich mental auf den »Worst Case« vorzubereiten. Parallel dazu sind Fluchtmöglichkeiten auszuloten, die in jedem Fall die beste Verteidigung darstellen. Als hilfreich erweist sich eine leicht verständliche, souveräne verbale oder nonverbale deeskalierende (beruhigende, nicht provozierende) Kommunikation. Kommt es dennoch tatsächlich zu einer tätlichen Auseinandersetzung, gelten die Regeln der Notwehr.

Machtproben unterlassen. Ein Ernstfall ist jedoch im Bereich der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie bzw. in Beratungssituationen äußerst unwahrscheinlich. Hier gilt das Gegenteil des »Ernstfalls«: Kämpfen verstärkt die häufig dahinterstehende Angst und Unsicherheit und trägt so zu unnötigen Eskalationen bei. Hätte man sich mit Tanja gleich beim ersten Treffen auf eine Machtprobe eingelassen, hätte man sie aufgrund von Tanjas langjährigem »Training« mit aggressiven Eskalationen ziemlich sicher verloren. Den Angriff ein Stück weit zu ignorieren, aber die darin liegende Angst vor der »Entblößung« ernst zu nehmen und Freiraum für eine Entscheidung ihrerseits zu bieten, hatte bei ihr wesentlich mehr Erfolg. Punktgenau eine Viertelstunde nach der letzten Therapie stand sie vor der Tür der Therapeutin und war emotional in einer völlig anderen, eher anlehnungsbedürftigen Verfassung.

Rollenspiele einsetzen. Eine heikle Situation für aggressive Durchbrüche von Klienten können Rollenspiele sein. Ein häufiges Einsatzfeld von Rollenspielen ist das Verhaltenstraining mit aggressiven Kindern und Jugendlichen. Im Rahmen von »Als-ob-Handlungen« können hier alternative Reaktionen ausprobiert und erlernt werden (Hungerige & Borg-Laufs, 2007). Dabei nimmt das Rollenspiel eine Mittelposition zwischen einem emotional unverfänglichen Gespräch über Erlebens- und Verhaltensweisen einerseits und der Realsituation andererseits ein.

Emotionen akzeptieren, von Eskalationen abgrenzen. Auch mit Tanja kam es innerhalb der eigentlich an vielen Stellen auch produktiven gemeinsamen Arbeit immer wieder zu aggressiven Durchbrüchen leichterer und mittlerer Art. In vielen Fällen kann hier mit einer Doppelstrategie gearbeitet werden, die dem emotionalen Ausdruck verstehend nachgeht, sich jedoch von der momentanen Eskalation deutlich abgrenzt. So eskalierte bei Tanja z. B. häufig die Situation vor der Therapiestunde. Oft hatten aggressive Handlungen innerhalb der Einrichtung zu Konsequenzen geführt, die sie gegen die gesamte Erwachsenenwelt aufbrachten und einer Mischung von Wut, Scham und Hilflosigkeit aussetzten. Ihren verbalen Ausschreitungen mit dem Inhalt »Ihr seid ja sowieso alle gegen mich« mussten dann häufig regulierende Äußerungen entgegengesetzt werden: dass man ihre Wut verstehe und dass man sich gerne gemeinsam den genauen Hergang der Situation nochmals anschauen könne, aber dazu eine Arbeitsatmosphäre brauche, in der man sich nicht anschreie, sondern in Ruhe auf die Suche gehe. Nach einer gewissen Strecke der Zusammenarbeit kann man auch in ruhiger Sprache begrenzend auf gemeinsam erarbeitete Ziele und Aussagen verweisen. Bei Tanja musste sorgsam abgewogen werden, auf welcher Höhe ihr Spannungsniveau sich befand. Ab einer bestimmten Höhe des Erregungsniveaus ist das Gegenüber kognitiv nicht mehr erreichbar. Es kann dann nur noch stressregulierend eingegriffen werden.

Motivierende Gesprächsführung. In leichten und mittelschweren Ausschreitungssituationen kann auch häufig auf Methoden der »Motivierenden Gesprächsführung« von Miller und Rollnick (1991/2014) zurückgegriffen werden, um die eigene Motivation der Klientin im ja stets vorhandenen Ambivalenzkonflikt bei aggressiven Verhaltensweisen zu stärken. Das klientenzentrierte, jedoch direktivere Erarbeiten aller Pros und Kontras zu einem bestimmten Verhalten klärt den Konflikt für Kinder und Jugendliche zunächst kognitiv und lässt ihnen selbst die Möglichkeit, einen Veränderungsimpuls einzuleiten oder nicht. Insbesondere im wiederholten Falle ungewollter aggressiver Durchbrüche lässt sich das Verfahren gut einsetzen.

Die humanistische, von Empathie, Wertschätzung und Kongruenz geprägte Grundhaltung in Kombination mit dem dadurch eröffneten Freiraum, als Klientin stets selbst entscheiden zu können, erweist sich gerade bei Jugendlichen inmitten eines Autonomie-Abhängigkeits-Konflikts als sehr konstruktiv

Grenzen akzeptieren. Nicht zuletzt ist jedoch im Bereich von Aggressivität, Delinquenz und bei Persönlichkeitsstörungen auch Realitätssinn angebracht. So müssen wir im Beratungs- und Therapiebereich realisieren, wo Veränderungsspielräume liegen und wo allen Bemühungen auch Grenzen gesetzt sind. Auch bei Tanja gab es bei diesem ersten Therapieanlauf Grenzen. Sie hat inzwischen ihren Schulabschluss geschafft. Mehrfache Aufenthalte in der Psychiatrie aufgrund ihres stark aggressiven Verhaltens gegen andere Mädchen und Jungen ließen sich jedoch nicht vermeiden. Im geschützten Setting der Therapie kam sie vielen der Dynamiken kognitiv auf den Grund. Steuern kann sie bisher nur manche davon. Das ist noch nicht alles, aber auf jeden Fall ein Anfang für den Start in das Erwachsenenalter.

Dos

  • Ruhe bewahren und Unsicherheit hinter dem aggressiven Verhalten erkennen; authentisch eigene Grenzen vermitteln
  • Fundierte Informationen zu aggressiven Problematiken aneignen
  • Aggressionsform differenziert diagnostizieren
  • Gefährlichkeit einschätzen (»Worst- Case-Szenario«)
  • Sicherheitsvorkehrungen treffen (Unterstützungs- und Fluchtmöglichkeiten)
  • Deeskalationstechniken und Motivierende Gesprächsführung einsetzen
  • Gemeinsam auf die Suche nach Ursache und Hintergründen gehen
  • Vor möglicherweise emotionsaktivierenden Rollenspielen klare Stopp-Signale vereinbaren

Don’ts

  • Wertschätzende Grundhaltung vernachlässigen
  • Erstarren oder unsicheres Auftreten
  • Uneindeutige Körpersprache
  • Gefahr und eigenes Sicherheitsbedürfnis unterbewerten
  • Eigene Einwirkungsmöglichkeiten überschätzen
  • Zurückhaltung im Falle manifester Gefahr
  • Eigene affektive Entgleisung

Literatur

Borg-Laufs, M. (2002). Verhaltenstherapie mit aggressiven Jugendlichen. Ableitungen aus der Entwicklungpsychopathologie. In bkj (Hrsg.), Viele Seelen wohnen doch in meiner Brust. Identitätsarbeit in der Psychotherapie mit Jugendlichen (Reihe: Wissenschaftliche Schriftenreihe ds BKJ, Bd.1, 107­131).
Hungerige, H. & Borg-Laufs, M. (2007). Rollenspiel. In M. Borg-Laufs (Hrsg.), Lehrbuch der Verhaltenstherapie mit Kindern und Jugendlichen, Bd. 2: Diagnostik und Intervention (2., überarb. u. erw. Aufl.; S. 239-298). Tübingen: DGVT-Verlag.
Kazdin, A.E. (1997). Practitioner review psychosocial treatments of conduct disorder in children. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry, 38 (2), 161­178.
Miller, W.R. & Rollnick, S. (2015) / engl. Original 1991). Motivierende Gesprächsführung. Motivational Interviewing (3., unveränd. Aufl.). Freiburg i.Br.: Lambertus. Moggi, F. & Clémencon, R. (1993). Beziehungsnäh und Gewaltanwendung. Entstehungsbedingungen von Depressionen und interpersonalen Störungen bei inzestbetroffenen Frauen. Psychosozial, 16 (2), 7­24.
Petermann, F. & Winkel, S. (2007). Selbstverletzendes Verhalten. Diagnostik und psychotherapeutische Ansätze. Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 55 (2), 123­132. 

Leseprobe aus: Borg-Laufs •Gahleitner •Hungerige (2018): Schwierige Situationen in Therapie und Beratung mit Kindern und Jugendlichen. Weinheim: Beltz

 

Bitte geben Sie die Zeichenfolge in das nachfolgende Textfeld ein.

Die mit einem * markierten Felder sind Pflichtfelder.

Bitte lesen Sie die Datenschutzbestimmungen.

Passende Artikel
Training mit aggressiven Kindern: Beobachtungsbogen zur Therapiemitarbeit des Kindes
Arbeitsblatt
Arbeitsblatt
F9 Störungen des Sozialverhaltens

Training mit aggressiven Kindern: Beobachtungsbogen zur...

Der Therapeut schätzt das Verhalten eines Kindes für eine Therapiesitzung oder einen Ausschnitt davon hinsichtlich...

Motivierende Gesprächsführung nach Miller und Rollnick

Ziel der motivierenden Gesprächsführung nach Miller und Rollnick (2015) ist die Unterstützung von Klienten bei...
Materialien dieses Titels
Materialien dieses Titels

Therapie-Tools Soziale Kompetenz für Kinder

Soziale Kompetenz im Kindesalter ist äußerst bedeutsam für die Entwicklung eines gesunden Selbstbildes und positiver...