Von der Theorie zur Praxis: Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen

Die Schematherapie gilt allgemein als eine Weiterentwicklung und Erweiterung der klassischen Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT). Sie integriert hypno- und gestalttherapeutische, aber auch psychodynamische, achtsamkeitsbasierte und körperbezogene Techniken in das Gesamtkonzept. In der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen werden vor allem systemische und bindungstheoretische Aspekte berücksichtigt. Besonders therapierelevant sind emotionale und biografische Faktoren, die mit dem Problemverhalten in Verbindung stehen. Auch die nachbeelternde, therapeutische Beziehungsgestaltung nimmt einen sehr großen Stellenwert in der Therapie ein.

Ein Blick in die Praxis

Wer von uns Behandler:innen kennt es nicht? Bereits in der ersten Kontaktaufnahme klingen die Schilderungen der Symptome und bisherigen (negativen) therapeutischen Erfahrungen des Kindes oder Jugendlichen überwältigend. Die Symptome scheinen komplex, bestehen oftmals schon lange und bisherige Behandlungsansätze erbrachten bisher keine nachhaltigen positiven Veränderungen. Die Beziehungsaufnahme gestaltet sich schwierig. Sowohl beim Therapiekind als auch oftmals bei den Bezugspersonen wird eine hohe Frustration spürbar. Wenn dann auch noch der Zugriff auf Ressourcen und Stärken des Kindes kaum möglich erscheint, stellt sich einmal mehr die Frage nach einem hilfreichen Therapieansatz.
Vor dem Hintergrund einer Anamnese und Verhaltensanalyse nach dem SORCK-Modell wird in der Schematherapie zunächst eine Fallkonzeption erstellt, die ein individuelles, umfassendes Erklärungsmodell beinhaltet. Sie dient als roter Faden für die Therapie und macht die Behandlung für alle Beteiligten transparent und nachvollziehbar. Schwerpunkte dieser Konzeption sind u.a.
• auslösende Situationen,
• emotionale Bedürfnisse,
• Muster des Erlebens und
• Bewältigungsversuche.

Vor diesem konzeptuellen Hintergrund lassen sich altersangemessen und leicht nachvollziehbar belastende Gefühle, dysfunktionale Gedanken, unangenehme Körperempfindungen und problematische Verhaltensweisen besser verstehen und mit inadäquat befriedigten Grundbedürfnissen in Verbindung bringen.

What is the need behind the symptom?

Eine der Lieblingsfragen in der ST-KJ lautet: »What is the need behind the symptom?«. Wir versuchen mit dem Kind bzw. dem/der Jugendlichen alters- und entwicklungsgerecht zu ergründen, welches übergeordnete Thema bzw. welche Bedürfnisse grundsätzlich mit dem Symptom verknüpft sind.
Mit dem schematherapeutischen Blickwinkel gehen wir davon aus, dass es durch eine inadäquate Befriedigung von existenziellen und seelischen Bedürfnissen (z.B. Bindung, Autonomie, Selbstwert, Lust, Struktur) zur Ausbildung fehlangepasster Muster des Erlebens kommt. Wenn z.B. ein Kind immer wieder kritisiert und viel zu selten gelobt wird, dürfte das Kind in seinem Bedürfnis nach Selbstwert zu kurz kommen. Diese Erfahrung vergisst das Kind nicht. Im weiteren Verlauf der Entwicklung hätte das Kind bzw. später der/die Jugendliche allen Grund, ein Problem im Umgang mit Kritik zu haben. In der Terminologie der Schematherapie liegt ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung eines Schemas vor, in diesem Falle »Unzulänglichkeit/Scham« oder »Versagen« mit dem Kerngedanken: »Ich bin nicht gut genug!«. Die Aktivierung eines solchen Schemas führt im Allgemeinen zu einem affektiven Zustand, den wir als Modus des verletzbaren Kindes bezeichnen. Das Kind ist gekränkt und emotional verletzt, vielleicht fühlt es sich allein gelassen und/oder ist traurig und unsicher. Dieser Zustand ist für einen Menschen nur schwer aushaltbar. Vielleicht lernt das Kind, dass dieser Bewältigungsmodus (z.B. Angreifer-Modus) ihm kurzfristig Entlastung bringt. Es reagiert dann auch künftig bei der Aktivierung dieses Musters des Erlebens durch Bedürfnisfrustration automatisch mit diesem Bewältigungsversuch. Dadurch entsteht dann langfristig das sichtbare Symptom, das von außen betrachtet das Problem darstellt. Wichtig ist also, zu verstehen, dass Symptome nur Botschafter sind und auf eine Bedürfnisfrustration hinweisen. Wenn also in der Therapie die verantwortlichen Bedürfnisse identifiziert und versorgt werden können, braucht der Bewältigungsmodus nicht mehr in Aktion treten, das Symptom verliert dadurch seinen Sinn, seine Aufgabe.

Das richtige Maß ist entscheidend

Eine Frustration von Bedürfnissen kann darin bestehen, dass das Kind ein »Zu wenig des Guten« (im skizzierten Fall also Mangel an Lob) oder aber ein »Zu viel des Guten« (Abusus von Lob-Bekundungen) erfahren hat. In beiden Fällen ist das Bedürfnis nach Selbst irritiert bzw. nicht angemessen befriedigt. In der Bedürfnisarbeit mit Kindern und Eltern geht es mehr um eine angemessene bzw. ausgewogene Balance als um eine »100%-ige, perfekt anmutende« Befriedigung einzelner Bedürfnisse.

Quelle der Frustration. Eine solche Bedürfnisfrustration kann von verschiedenen Bezugspersonen ausgehen: In erster Linie denken wir an die elterlichen und familiären Bezugspersonen, aber natürlich auch Menschen, die sonst noch mit den Kindern in Kontakt stehen wie z.B. pädagogische Bezugspersonen im Kindergarten oder an Lehrkräfte in den Schulen. Wohl kaum zu überschätzen ist der Einfluss der Gleichaltrigen (Peergroup), die in Form von realen oder auch virtuellen Kontakten (z.B. Social Media) auf die Kinder und Jugendlichen Einfluss nehmen können.

Schematherapeut:innen legen großen Wert auf ein gemeinsames Erarbeiten eines plausiblen Erklärungsmodells für das Verhalten, das als »Symptom« ausgemacht wurde.

Phasen in der Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen

Nach einer ersten Phase der Diagnostik (Probatorik), vertiefen wir die Ressourcen- und Stärkenarbeit des Kindes (ca. 1–3 Sitzungen). Wir schauen auf die Errungenschaften des Kindes, arbeiten positive Schemata heraus und visualisieren die Errungenschaften des Kindes bzw. des/der Jugendlichen (z.B. über persönliche Fotografien oder Bilder-Collagen). Bezogen auf den Vorstellungsanlass und die Symptomatik des Therapiekindes werden folgende Aspekte mit entsprechenden Impulsfragen fokussiert. Dabei sollten Grundregeln des empathischen Zuhörens berücksichtigt werden. Eine Entschleunigung und ein Paraphrasieren des Gesagten erweist sich als hilfreich.

A: Schwierige Situationen im Alltag (Trigger): Was ist ganz schlimm für dich? Wann könntest du ausflippen oder weglaufen (z.B. Wenn du zu Unrecht kritisiert wirst)?
B: Schema-Benennung: Was schießt dir dann als erstes durch den Kopf (z.B. »Ich bin mal wieder nicht okay so, wie ich bin!«) und wie fühlst du dich (z.B. wütend)?
C: Schema-Erkundung: Das spürst du nicht zum ersten Mal, oder? Hast du diesen Gedanken oder dieses Gefühl schon früher mal erlebt (z.B. »Zu Hause/im Kindergarten/in der Schule«)?
D: Bewältigungsversuch: Was machst du dann, wenn dir dieses Gefühl und/oder dieser Gedanke wieder durch den Kopf schießt bzw. durch Mark und Bein geht (z.B. »Ich wehre mich und greife die Person an.« [hier: Angreifer-Modus])?
E: Bedürfnis(se) hinter dem Symptom: Ich kann gut verstehen, dass du dann sehr wütend bist. Schließlich hat dich jemand harsch oder zu Unrecht kritisiert. Das ist nicht okay! Was brauchst du in diesem Moment? Was würde dir helfen, in dieser schwierigen Situation die Nerven zu behalten und dich angemessen zu wehren/behaupten (z.B. »Ich bräuchte einen Menschen, der zu mir hält und sagt, dass ich nichts falsch gemacht habe«. [hier: Bedürfnis nach Bindung und Selbstwert])?

Unentbehrlich: Validierung der Gefühle und Wertschätzung für Offenheit & Vertrauen

Die folgenden Punkte drehen sich zunächst um Validierung der Gefühle (Stichwort: Bedürfnisfrustration) und um authentische Anteilnahme bezüglich vorausgegangen Frustrationen von Bedürfnissen (»Das tut mir so leid. Das hast du echt nicht verdient!«). In der Folge wird eine Entpathologisierung des (Problem-)Verhaltens angestrebt (»Jetzt verstehe ich, warum du manchmal so wütend bist. Ich glaube, das ginge vielen so«) und Wertschätzung für die Offenheit (»Danke, dass du es mir erzählt hast«). Selektive Selbstoffenbarung unterstreicht meist die Empathie und das Wohlwollen von Therapeut:innen (»Ich – an deiner Stelle – wäre echt verletzt und sauer. Und wenn ich dir so zuhöre, spüre ich schon mein eigenes verletztes Kind aufpoppen. Wie gemein ist das denn! … Danke nochmal, für deine Erklärung. So langsam kapiere ich, wie es dir wohl damals ergangen ist und noch heute gehen wird.«).
Modusarbeit und Imaginationsverfahren. In der Modusarbeit werden dann – neben dem verletzbaren Kindmodus – weitere Modi (z.B. der ärgerlich-frustrierte Kindmodus und der Clevermodus) gemeinsam erarbeitet und spielerisch mit Materialien (z.B. Fingerpuppen) erfahrbar gemacht oder bei Jugendlichen z.B. mit Moduskarten visualisiert und in Stuhldialogen vertieft. Auch Imaginationsverfahren helfen dabei, diese Modi auch emotional und körperlich lebendig und spürbar werden zu lassen.

Schematherapie und KVT als Win-win-Beziehung

Zusätzlich zur schematherapeutischen Behandlung werden häufig auch klassische verhaltenstherapeutische Übungen eingesetzt, wie strukturiertes Rollenspiel oder Expositionsübungen. Dies unterstützt ergänzend eine funktionale, angemessene Reaktion auf Konfliktsituationen des Therapiekindes. Insofern sind aus unserer Sicht die KVT und ST-KJ zwei sich ergänzende und voneinander profitierende Methoden bzw. Verfahren, die sowohl störungsübergreifende, erfahrungsorientierte Klärung (ST-KJ) als auch pragmatische und lösungsorientierte Verhaltensmodifikation (KVT) versprechen.

Elternarbeit in der ST-KJ

Die Eltern bzw. elterlichen Bezugspersonen spielen eine große Rolle in der Entwicklung und letztlich in der Behandlung eines Kindes. Nicht selten werden durch klassisches und operantes Konditionieren, durch Modelllernen und allgemein durch ungünstige elterliche Erziehungsstile die Entstehung von Schemata befördert bzw. dysfunktionale Modi verstärkt.
Fazit zur Theorie und Praxis: Schematherapie bietet ein integratives psychotherapeutisches Behandlungskonzept insbesondere für komplexe, tiefgreifende Störungsbilder und für Konflikte im interpersonellen Bereich. Klassische Techniken der KVT werden durch emotionsaktivierende, achtsamkeitsbasierte, bindungsorientierte und gestalttherapeutische Interventionen ergänzt. Besonders durch die emotionale Aktivierung werden tiefergehende Prozesse und therapeutische Veränderungen erst möglich, die dann im unmittelbaren Erleben integriert und im Verhalten eingeübt werden.

Die Autor:innen

Dr. phil. Leokadia Brüderl, Psychologische Psychotherapeutin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in eigener Praxis in Sindelfingen. Dozentin, Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin für Verhaltenstherapie (DVT) und Schematherapie (ISST).

Dr. Christof Loose, Dipl.-Psych., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und zertifizierter Schematherapeut für Kinder und Jugendliche (ISST e.V.). Er arbeitet in eigener Privatpraxis in Düsseldorf. Er ist national und international anerkannter Mitbegründer der Schematherapie für Kinder und Jugendliche und gibt seit 2013 Workshops, Seminare und Vorträge im In- und Ausland.

Exklusive Live-Workshop-Reihe zur Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen

Erleben Sie unsere Autor:innen in folgenden exklusiven Live-Workshops im Rahmen unserer akkreditierten Webinar- Reihe:
Dr. Leokadia Brüderl am 25. September 2025 von 9:00 bis 13:30 Uhr zum Thema »Einführung in die Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen«.
Dr. Marion Pothmann am 30. Oktober 2025 von 9:00 bis 13:30 zum Thema »Schematherapie mit Kindern und Jugendlichen: Das Modus-Modell«.
Nicole Haubitz am 04. Dezember 2025 von 9:00 bis 13:30 Uhr zum Thema »Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen: Imaginative Techniken«.
Dr. Christof Loose am 15. Januar 2025 von 9:00 bis 13:30 Uhr zum Thema »Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen: Schema-Coaching für Eltern«.

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